Stadttheater Giessen
    Sexy Momente oder quälende Gewaltszenen?

    Sexy Momente oder quälende Gewaltszenen?


    Premiere im Rahmen der TanzArt ostwest hatte das Tanzstück »Puppentänze - Coppelia revisited« von Massimo Gerardi. Manche Besucher (vor allem männliche) sahen es als Abbild unserer Realität mit durchaus sexy Momenten, für andere (vor allem für Frauen) war es eher schmerzhaft und quälend ob der Gewaltszenen.

    Wenn die Neuproduktion »Puppentänze - Coppelia revisited« eines erreicht, dann ist es kontroverse Wahrnehmung und anschließende Diskussionen. Und das ist erklärtes Ziel des seit Jahren in Deutschland lebenden italienischen Tänzers und Choreografen Massimo Gerardi.

    Gerardi hat sich auf Vorschlag des Gießener Ballettdirektors Tarek Assam mit diesem Thema befasst. Was für das Ballettgenre bedeutet: sich an der klassischen Vorlage »Coppelia« von Leo Delibes abzuarbeiten (Premiere 1870). Ein Ballett, das bis heute zu den Standards klassischer Ballettkompanien gehört. Und Delibes hatte bereits eine noch ältere Vorlage, die Erzählung »Der Sandmann« von E. T. A. Hoffmann, der darin romantische Motive der Liebe aus Einsamkeit verarbeitete. Frage also: Was macht ein junges Team aus dieser Geschichte, die zur kulturellen Überlieferung unserer Gesellschaft gehört.

    Im Kern steckt darin die Männerfantasie, ein eigenes Geschöpf zu erschaffen, in das alle Wünsche und Vorstellungen hineinprojiziert und womöglich gelebt werden können. Die Geschichte kommt aus der antiken Mythologie - Pygmalion verliebt sich in seine Statue, jedoch als unglückliche Geschichte, sie steht hier für die Nichtigkeit allen menschlichen Bemühens. Im Zeitalter der technischen Machbarkeit wurden daraus Machtfantasien von mechanischen Puppen, Automaten und Monstergeschöpfen wie Frankenstein, die allesamt bis in aktuelle Filme hineinwirken.

    In der Mann-Frau-Variante ist bislang immer der Mann der Schöpfer, der die Frau so formen will, wie er sie gern hätte: gehorsam und willig, auch mal sexy und eigenwillig, doch das nur in Grenzen. Aktuelle Bezüge kommen ins Spiel: Während der Probenarbeiten für »Puppentänze« beherrschte der sexuelle Missbrauch durch einen der Mächtigen dieser Welt die Schlagzeilen. Der Chef des Internationalen Währungsfonds, Dominique Strauss-Kahn, habe ein Zimmermädchen zum Sex zwingen wollen, was er anders sieht. Was ist freiwillig, was ist aufgezwungen, wo verläuft die Grenze?

    Zurück zum Bühnenstück. Es gibt Tanzszenen, in denen die Puppen sehr »puppig« und hölzern wirken, mithin willenlos und formbar sind. An anderer Stelle entwickeln sie scheinbar ein Eigenleben und werden sogar verführerisch im Angesicht des jungen Mannes. Neben der - bei aller tänzerischen Verfremdung - unglaublich realitätsnahen Vergewaltigungsszene (durch den Schöpfer), gibt es auch eine mit lustvollem Stöhnen und Gruppensex. Dennoch: Gewalt in Form von Manipulation ist der durchgängige Subtext dieser Choreografie. Und am Ende bleiben trotz Widerstands und Ausbruchversuchs die Puppen im Netz ihres Erfinders gefangen. Eine wird gar zerstört.

    In dem schlichten und wirkungsvollen Bühnenbild Michele Lorenzinis halten sich alle sechs permanent auf, die Männer auch mal in ihren seitlichen Rückzugsräumen, während die Frauen durchgängig in der Mitte der Bühne präsent sind. Eine weiße Truhe erweist sich als erstaunlich wandlungsfähig. Die Musik stammt in den romantischen Szenen von Delibes, häufiger ist jedoch zeitgenössische Computer-Musik zu hören, die mit wummernden Bässen und bedrohlichen Tonlagen arbeitet.

    Die sechs Mitglieder der Tanzcompagnie Gießen zeigen sich in bravouröser Form. Die beiden männlichen Figuren werden konsequent umgesetzt durch Hua-Bao Chien als fieser Schöpfer und Manipulator und Keith Chin als sensibler Künstler und »Charming Lover«. Die Puppe ist vierfach vertreten durch Ekaterine Giogadze, Antonia Heß, Nina Plantefève-Castyck und Neuzugang Vanda Stefanescu. Staunenswert, wie sie mit starrem Körper und Blick herumgetragen und postiert werden, wie sie allmählich die Beweglichkeit ihrer diversen Körperteile entdecken und durchaus unterschiedliche Charaktere annehmen. Witzig die Szene, in denen die Puppendarstellerinnen die Nutzanwendung von High Heels erproben. Ein bisschen wie Schülertheater wirkt die Szene, in der unterschiedliche Kleider übergestreift werden und so diverse Frauenbilder entstehen, von der puppenhaften Braut bis zur Domina, von der Soldatin bis zur Pop-Sängerin. Allerdings hat diese Szene durchaus ernsten Hintergrund seit Sendungen wie »Deutschland sucht den Superstar« oder »Germany's next Topmodel« den jungen Menschen die Möglichkeit des Ruhmes für jeden vorgaukeln. Beim Warten auf den Beginn der ersten Spätvorstellung im Rahmen des TanzArt- ostwest-Festivals war dann tatsächlich zu hören, dass junge Zuschauerinnen nach Hause gegangen waren, um die Endausscheidung des Topmodelwettbewerbs anzuschauen. Die »Heidi-Klumisierung der Welt« hat auch Gießen erreicht, kommentierte eine Mehrfachmutter lakonisch.

    »Puppentänze« von Massimo Gerardi gehört zum Repertoirestück der Tanzcompagnie des Stadttheaters und wird noch mehrmals zu sehen sein, auch in der nächsten Spielzeit. Dagmar Klein, 11.06.2011, Gießener Allgemeine Zeitung