»Amerika« im Theaterstudio - Gießener Allgemeine Zeitung

23.04.2012

Ein gellender Schrei erschreckt die Zuschauer im Theaterstudio gleich zu Beginn der Premiere von »Amerika«. Im Laufe des knapp zweistündigen Theaterabends werden noch viele solcher Ausbrüche folgen.
Laute Rockmusik, eine Slapstick-Einlage, skurrile Kostümierungen und Dialoge, die die Romanvorlage Franz Kafkas parodieren oder im schlimmsten Fall übertreffen wollen: Regisseur Christian Fries, der den Romanstoff zu einer eigenen Bühnenfassung geformt hat, versucht mit aller Macht, der Geschichte vom in den USA scheiternden Karl Rossmann einen modernen Anstrich zu geben. Nicht immer macht das auch Sinn.

»Liberty’s« heißt das Schnellrestaurant, in dem die Figuren in allen Szenen nebeneinander sitzen, und schnell und befreit von vermeintlichen Zwängen ist auch das, was Fries mit seinem Schauspielerquartett aus der Geschichte gemacht hat. Die Figuren reden in teils aberwitzigem Tempo und wechseln die Kostüme und Perücken im Minutentakt. Der 16-jährige Karl, der von seinen Eltern nach Amerika geschickt wurde, weil er vom Dienstmädchen vergewaltigt wurde und dabei ein Kind gezeugt hat, wird zunächst von seiner reichen Tante protegiert, dann verstoßen, muss sich von zwei Landstreichern ausgenutzt als Liftboy und Diener einer Lebedame herumschlagen und landet schließlich in einem Bordell. Bevor er die Chance hat, im Naturtheater Oklahama wieder auf die Beine zu kommen, wird er getötet – in Fries’ Variante übrigens mit einem Feuerlöscher.
Rossmann begegnet den Personen aus dem Roman immer wieder in der von Marion
Eiselé kühl und im Mc Donald’s-Look entworfenen Kulisse. Fastfood als Metapher für die oberflächliche, konsumorientierte Gesellschaft und den gnadenlosen American way of life: Diese Idee funktioniert. Gelungen sind auch die Schwarz-Weiß-Videoeinspielungen, die gegen Ende des unaufhaltsamen Abstiegs von Karl Rossmann auf der Rückwand des Diners mit Werbeszenen für das Theater Oklahama einen Ausweg aus der Misere aufzeigen. Hier wird das Theaterstück endgültig zur Performance.

Fries scheint jedoch immer noch einen draufsetzen zu wollen. Da blitzt verstörend eine Micky-Mouse-Maske im Video auf, eine Verfolgungsjagd wird zur Slapstick-Lachnummer wie in den von Kafka so geschätzten Stummfilmen, und vor allem Lukas Goldbach muss als Landstreicher immer wieder rappen und beatboxen oder als mit einem Kissen als Bauch ausstaffierter Polizist für Lacher sorgen. Warum diese Übertreibungen? Warum die Ballung solcher Überzeichnungen fast ausschließlich im letzten Drittel des Theaterabends, der ansonsten durchaus seine Längen hat? Warum Kafkas Zeilen im Rappersound? Die Antwort erschloss sich dem Premierenpublikum, das am Ende der Vorstellung freundlich, aber keineswegs begeistert applaudierte offenbar nicht.

Das Schauspielerquartett bemühte sich redlich, die Typen plastisch herauszuarbeiten. Corbinian Deller gab Rossmann, dessen sozialer Abstieg, typisch für Kafka, unaufhaltsam ist, glaubwürdig als völlig überforderten, unreifen Jungen. Mirjam Sommer schlüpfte mit der ihr eigenen Inbrunst in die Rolle der reichen Tante wie der abgehalfterten Prostituierten. Und Milan Pešl, der unter anderem als Schiffsheizer eine der Kernfiguren im Roman verkörperte, spielte solide. Lukas Goldbach lotete wieder einmal die clownesken Züge seiner Figuren aus und kassierte Lacher. Alles andere als lustig – und völlig unnötig – war jedoch jener Monolog, in dem er den sexuell Erregten gab.

Fries, bis 2011 Schauspieler im Stadttheaterensemble, hat Kafkas »Amerika« zu einer Bühnenversion umgearbeitet, die den Zuschauern einiges abverlangt. Er stellt in rascher Folge Situationen und Handlungen aus der Romanvorlage in den Vordergrund und lässt Figuren und Szenerien wie Blitzlichter aufleuchten. »Überdeutlich bis zur Unwirklichkeit« hatte Max Brod Kafkas Stil beschrieben – irgendwie trifft das auch auf die Fries’sche Bühnenvariante zu. Carola Schepp, 23. April 2012, Gießener Allgemeine Zeitung