„Anna Blue“ im TiL voller Intensität und Ausdruck - Gießener Anzeiger

13.12.2011

Drei Tänzerinnen, ein Tänzer und ein Cello: „Anna Blue“ im TiL voller Intensität und Ausdruck

Ein voller Erfolg war am Sonntag die Premiere des neuen Tanzstücks von Hagit Yakira und Tarek Assam im Theaterstudio im Löbershof (TiL). „Anna Blue“ vereint Präzision des Ausdrucks, Intensität des Gefühls und überraschende Gestaltungselemente zu einem mitreißenden, sehr anregenden Tanzabend.
Die Londoner Choreografin Hagit Yakira ging mit dem Namen einer Schmetterlingsart von grundlegenden Gedanken des Romans „Papillon“ von Henri Charrière aus, nämlich jedes Menschen Drang nach Freiheit. Yakira lässt, noch beim Einlass, Tänzer sich aus einem tuchartigen Kokon befreien und in wild tanzende Lebewesen verwandeln. Neben der Freiheit geht es auch um die Suche nach Glück, dem zweiten Hauptthema des Abends.
Essenzielle Zutat in dieser Konstruktion ist der Cellist Attila Hündöl. Er sorgt für ein paar der ungewöhnlichsten Momente, die lange Zeit im Ti zu erleben waren. Er spielt Musik von Johann Sebastian Bach, Gaspar Cassandó, Georg Goltermann, Alfredo Piatti und Peteris Vasks; ansonsten erklingt nichts. Ganz nebenbei fast rotiert vorne rechts auf der Bühne (einige Stühle und hinten gehängte Tuchflächen von Bernard Niechotz) ein blauer Schmetterling, diskreter Verweis aufs Thema.
Im Folgenden erweist sich die Kombination der vier Tänzer - bestens aufgelegt und mit angenehmer lebhafter Expressivität agieren Edina Nagy, Mamiko Sakurai, Magdalena Stoyanova und Christopher Basile - mit dem Cellisten als großer Wurf. Nicht nur liefert Hündöl sensibel und mit detailbewusster Präzision hörenswerte Klangerlebnisse. Vor allem besticht seine übergangslose inhaltliche Integration ins Geschehen. Mal mittendrin, betanzt von Akteuren, mal abseits hinter einem Vorhang, ist die Musik nicht zuletzt Teil des emotionalen Geschehens.
Plötzlich hört man die Stimme Yakiras. Sie spricht Tänzer an und fordert von ihnen, ihr etwas zu zeigen, mit zunächst teilweise, dann immer widersprüchlicheren Formulierungen („Show me freedom in colours!“), die schließlich im D-Zugtempo aufeinanderfolgen. Das Corps beschleunigt, zunächst synchron, und zeigt dabei einige der schönsten Figuren des Abends, bis schließlich kein Folgen der immer hektischeren Anweisungen mehr möglich ist und das Bild sich auflöst in separate Formen und einige sich vereinzelnde Tänzer, die dennoch Teil des Ganzen bleiben.
Hier hat die Regie ganze Arbeit geleistet, jeden expressiv ins Ganze zu integrieren; beeindruckend - das Publikum ist außergewöhnlich konzentriert.
Gegenpart zu dieser massiven Dynamik sind die oft von Hündöl angestoßenen ganz leisen, sachten Partien, wenn er seelenruhig und stabil an der Grenze zum Abriss des Tons spielt - sehr schön auch, wie er ein Solo mit freien Elementen eröffnet und abschließt oder ganz einfach gelassen das Geschehen betrachtet; stets ist er Teil des Geschehens. Überraschend gleitet dann Stoyanova zum Cello und bespielt Hündöl, Edina Nagy, erst beobachtend, macht es ihr später nach. Gegenüber sitzen Basile und Sakurai eng umschlungen beieinander.
Und schließlich rollen sich erst zwei, dann noch einer und dann der letzte Tänzer in eins der Tücher zusammen, in einer großen Umarmung, die direkt vor Attila Hündöl zum Stehen kommt. Dann Abblendung, Stille. Eine der Stärksten, wenn nicht die stärkste Szene des Stücks. Der Beifall nimmt kein Ende.

Heiner Schultz, 13.12.2011, Gießener Anzeiger