Anspruchsvolles Tanztheater - Gießener Anzeiger

10.10.2011

Anspruchsvolles Tanztheater

„Galileo meets Kopernikus“ von Tarek Assam bietet anspruchsvolles Tanztheater mit spannungsgeladener Musik

Die Bilder sind umwerfend, von der ersten Szene an. Ausdrucksstark, farbig, beglückend und beängstigend. Es geht um nichts Geringeres als ums Ganze, wie es oft so salopp heißt. In diesem Fall aber ist nichts Geringeres als das Universum gemeint und der leidenschaftliche Forscherdrang der Menschen. „Galileo meets Kopernikus“ heißt das neue Tanzstück von Tarek Assam, mit Leidenschaft präsentiert von 16 Tänzerinnen und Tänzern, von denen viele neu zur Tanzkompanie Gießen gekommen und dennoch schon zu einer richtigen Tanztruppe zusammengewachsen sind.
„Und sie dreht sich doch“: Dieses berühmte Zitat von Galileo Galilei, das der Wissenschaftler trotz drohender Inquisition geäußert haben soll (in Wirklichkeit aber nie gesagt hat), könnte als Motto über dem zweistündigen Tanzstück stehen. Die eindrucksvollen Bilder, Kostüme und Konstellationen hat der Gießener Bühnenbildner Lukas Noll entwickelt. Zwei Welten stehen sich hier diametral gegenüber: einmal die mittelalterliche Welt aus Glauben und Aberglauben, Höllenfeuer und Ewigkeit und dann die moderne wissenschaftliche Welt, eingeläutet unter anderem von Kopernikus und Galileo Galilei.
Dramatische Klänge
Das hieß es nun, szenisch und tänzerisch umzusetzen. Mit einem kurzen Blick in die Moderne beginnt das Tanztheater: Die ersten Menschen betreten den Mond. Sie schweben vom Bühnenhimmel und mimen Schwerelosigkeit. Die aber gibt’s auf Erden nicht. Der Astronom, ob es nun Kopernikus oder Galileo ist, kriecht erdbehaftet unter jungfräulichem Laken dahin, bis er zu den dramatischen Klängen des zeitgenössischen neuseeländischen Komponisten John Psathas endlich ins Freie tritt. Ganz hervorragend in der Rolle bewegt sich der Tänzer Alfonso Hierro-Delgado. Ihn treibt eine Erkenntnis und so heißt auch diese Szene, die zweite von insgesamt 13, „Das Erwachen des Astronomen“. Ebenso selbstbewusst und ausdrucksstark tanzt Hierro-Delgado in der Auseinandersetzung mit dem Papst (Sven Krautwurst), im Umgang mit seinen zweifelnden Mitmenschen.
Das zweite einprägsame Bild: ein Schwenk hinüber in die Welt des Mittelalters und der Renaissance. Rotes Licht, dunkelrote Kostüme - die Welt des Klerus wird in all seinen Facetten abgebildet und die sind nicht immer so moralisch, wie sie gern nach außen erscheinen möchten. Die Tänzer bewegen sich mit fast traumwandlerischer Sicherheit durch den Raum, es erscheinen Mächte des Jenseits, die den Kampf um die Seelen aufnehmen. Bewegungsreiches Tanztheater, ein Sittengemälde der Zeit nach Klängen des Renaissance-Komponisten Giovanni Gabrieli, aus den Rängen vorgetragen von Johannes Osswald und Nobuo Tsjui (Trompete) sowie Kurt Förster und Joachim Osswald (Posaune) aus dem Philharmonischen Orchester.
Die erste Begegnung von Galileo mit dem Papst verläuft noch unentschieden, die beiden Protagonisten umkreisen sich und messen ihre Kräfte. Ganz hervorragend agiert Sven Krautwurst in der Rolle des Papstes, der sowohl autoritär auftritt und sich dennoch in einer eigentümlichen Geschmeidigkeit den Kontakt zum Wissenschaftler und zu seinen Gläubigen erhält. Doch der Konflikt zwischen den beiden Männern eskaliert, als es darum geht, die Sternbilder am Himmel jeweils aus der eigenen Sicht zu erklären.
Minutenlanger Applaus
Wassermann, Stier, Jungfrau, alle sind sie auf der Bühne durch einen Tänzer vertreten, die Zwillinge sind sogar doppelt besetzt. Eine tänzerische Glanzleistung, perfekt getimt: Ob einzeln oder in Zweier- und Dreiergruppen, die freien Tanzfiguren nach einem weiteren Musikstück von John Psathas harmonieren, jeder gibt sein Bestes und bewegt sich an seinem Platz. In der Rolle der Sternbilder glänzen (wie zuvor bereits in der Welt des Mittelalters) Alaina Flores, Ekaterine Giorgadze, Clémentine Herveux, Hsiao-Ting Liao, Sidney Minton Green, Edina Nagy, Mamiko Sakurai, Robina Steyer, Magdalena Stoyanova, Christopher Basile, Joey Bustos, Keith Chin, Jeroen Van Acker und Jeremy Green.
Wie hinlänglich bekannt ist: Der Papst beharrt auf seinem Weltbild, die Kirche droht dem angeblichen Ketzer Galileo mit Inquisition. Vor einem riesigen Gemälde von Hieronymus Bosch ist mit Gänsehaut nachzuempfinden, wie die Menschen damals in Angst und Schrecken versetzt wurden: hektische, verzerrte Bewegungen nach den manchmal grellen Tönen der polyrhythmischen Kompositionen von John Psathas. Galileo Galilei kämpft mit sich und muss dann doch widerrufen, wenn er nicht auf dem Scheiterhaufen enden will.
Für den Choreografen Tarrek Assam gehört der Wissenschaftler dennoch zu den „Mutigen“, denen er sein Stück gewidmet hat. Das Gleiche gilt auch für Kopernikus, der bereits 100 Jahre vor Galileo, nämlich 1509, die Entdeckung machte, dass sich die Erde und die anderen Satelliten um die Sonne drehen. Im polnisch-preußischen Frauenberg hatte er damals allerdings keine Inquisition zu fürchten, sondern musste nur einige Schmähreden und verhöhnende Fastnachtsspiele über sich ergehen lassen. In Assams Choreografie verschmelzen beide zu einer Person und mit ihnen auch all jene Wissenschaftler, die zur Entdeckung des Weltalls beitrugen. Schließlich tragen sie den Sieg davon, das heliozentrische Weltbild setzt sich durch und mit ihm die Erkenntnis, dass die Erde nicht der Mittelpunkt der Welt ist, sondern sich in rasender Geschwindigkeit um die Sonne dreht. Mit choreografischen Mitteln und mithilfe einer ausgeklügelten Bühnentechnik rücken die Tänzer die Erde aus dem Mittelpunkt des Universums und weisen ihr den Platz im Spiel der Planeten zu, der ihr gebührt. Zum Schluss, eine kleine humorvolle Geste, grüßt noch einmal der Astronaut vom Mond herüber.
Ein anspruchsvolles Tanztheater mit spannungsgeladener Musik. Tarek Assam macht es seinem Publikum nicht leicht, die tänzerische Sprache der unterschiedlichen Protagonisten, Epochen und Stimmungen zu verstehen. Das mag der Preis des frei assoziierten Tanztheaters sein, das sich im Gegensatz zu einem Stück wie „Sommernachtstraum“ nicht an einer festen Handlung entlanghangeln kann, stellte Assam einmal selbst in einem Interview fest. So war Offenheit gegenüber neuen Klängen und Bewegungen von den Zuschauern gefragt, die nicht jeder aufbringen wollte. Der Großteil des Publikums jedoch war begeistert: Minutenlanger lautstarker Applaus belohnte die Akteure für ihre Arbeit. Die Bravo-Rufe für die strahlenden jungen Tänzer wollten nicht enden, die sich denn auch sichtlich über das Lob freuten.
Ulla Hahn-Grimm, 10.10.2011, Gießener Anzeiger