Atmosphärisch dicht: »Galileo meets Kopernikus« - Gießener Allgemeine Zeitung

10.10.2011

Atmosphärisch dicht: »Galileo meets Kopernikus«


Tarek Assam hat in seiner neuesten Choreografie viele Überraschungen im kongenialen Bühnenbild von Lukas Noll parat.

Zwei Astronauten in weißen Anzügen schweben herab, sie benötigen einige Zeit, bevor sie sich aufgrund der mangelnden Schwerkraft auf dem Boden fortbewegen können. Dazu ertönen Gespräche zwischen Bodenstation und Flugkapsel während einer Mondlandung. Szenenwechsel. Grausilbriges Tuch wogt über den Bühnenboden, ein menschlicher Körper gräbt sich darunter seinen Weg. Schließlich taucht der nackte Oberkörper des Forschers an die Oberfläche, der sich – dem Thema dieses Tanzstücks »Galileo meets Kopernikus« gemäß – als Astronom entpuppt. Alfonso Hierro-Delgado gibt in beeindruckender Präsenz den neugierigen Forscher, den Zweifler und Entdecker, aber auch den vom Papst Gedemütigten.

Tarek Assam, Ballettdirektor am Stadttheater, hat für seine neue Choreografie ein ungewöhnliches Thema gefunden: die Entdeckung des heliozentrischen Weltbilds durch Kopernikus in Preußen und zeitlich versetzt durch Galileo in Italien. Ausstatter Lukas Noll schuf dazu ein kongeniales Bühnenbild. Die leicht angeschrägte Rückwand birgt drei ineinander gelegte Kreise, die zu Beginn nur das dahinter scheinende Licht durchschimmern lassen, dann durch Kippen in die Waagerechte das damalige Weltbild symbolisiert, dass die Welt eine Scheibe sei, und zusätzlich eine weitere Projektionsfläche schafft, etwa für das Gewölbe der Kirchenkuppel, für die Schreckensvisionen eines Hieronymus Bosch oder für Himmelserscheinungen. Und am Ende öffnen sich die Kreise und drehen sich umeinander, sie symbolisieren nun die Entdeckung, dass die Gestirne im All umeinander kreisen.

Noll hat auch die Kostüme kreiert, die auf Basis heutiger Alltagskleidung (Jeans und T-Shirt) anlegt sind und die mit kleinen Details variiert werden. Natürlich bietet die farbenfrohe und bilderreiche Welt der katholischen Kirche besonders reiches Material mit Engeln und Teufeln, Mönchen und Nonnen, Papst und Kreuzrittern. Alle sind sie in Rot gekleidet und in rotes Licht getaucht (Manfred Wende). Die Sternbilder sind ausgesprochen apart gelöst mit kleinen weißen Zeichen auf den Köpfen, wobei hier besonders die männlichen Zwillinge mit ihren schlanken Körpern, lockiger Haarpracht und parallelen Bewegungen ins Auge stechen (Christopher Basile und Jeroen Van Acker).

Der Dialog zwischen Papst und Wissenschaftler ist eher ein Monolog, bei dem die päpstliche Seite dominiert. Sven Krautwurst als muskulöser und selbstbewusster Herrscher des Kirchenstaats spart nicht mit großtuerischen Gesten und Selbstgefälligkeiten. Auch wenn der Astronom korrekt argumentiert, der Papst hat die Definitionsmacht. Ein zartes, geschmeidiges Duett des Astronomen mit einer Frau, die zuvor die Angst der Menschen vor Veränderung symbolisierte (Magdalena Stoyanova), dient nach der Demütigung durch Papst und Inquisition seiner Selbstvergewisserung. Die Entdeckung, dass die Erde um die Sonne kreist und nicht umgekehrt, die kann er nun mit jemand teilen, der an ihn glaubt.

Alle 15 Tänzer und Tänzerinnen dieser Spielzeit sind nur einmal gleichzeitig auf der Bühne zu sehen – in der Sternbilderszene. Außer den bereits Genannten sind noch dabei: Alaina Flores, Ekaterine Giorgadze, Clémentine Herveux, Hsiao-Ting Liao, Sidney Minton Green, Edina Nagy, Mamiko Sakurai, Robina Steyer; Keith Chin, Jeremy Green. Gut die Hälfte der Gießener Tanzcompagnie ist neu, zudem sind einige Gäste dabei, und dennoch ist es gelungen, innerhalb von acht Wochen Proben ein formidables Ensemble zu formen mit beeindruckenden Einzelleistungen. Das verdient großen Respekt vor allen Beteiligten.

Die kontrastreiche Musik betont die verschiedenen Weltsichten. Das sind einmal die harmonischen Canzoni für Blechmusiker des venezianischen Kirchenmusikers Giovanni Gabrieli (1557-1612), also ein Zeitgenosse von Kopernikus und Galileo. Sie werden live abwechselnd auf der Bühne oder von den oberen Rängen gespielt von Mitgliedern des Philharmonischen Orchesters: Johannes Osswald, Nobuo Tsjui, Kurt Förster, Alexander Schmidt (bei der Premiere Joachim Osswald). Das klingt wohlgeordnet und ist Hörgenuss pur. Im Gegensatz dazu erscheint die eingespielte Musik des neuseeländischen Komponisten mit griechischen Wurzeln, John Psathas (*1966). Sie demonstriert die Komplexität und Unüberschaubarkeit unserer Welt: Das sind abrupte Brüche, pathetische Szenen, wabernde, manchmal auch unheimliche Klangteppiche, folkloristische Momente und bizarre Jazzeinlagen.

Dies alles weiß Tarek Assam analytisch und atmosphärisch zu nutzen: Mal betonen die Tänzer exakt die Akzentuierung in der Musik, mal folgen sie in diversen Gruppen den verschiedenen Rhythmen, ein anderes Mal bewegen sie sich gegenläufig. Es ist keine Choreografie, die Erwartungen bedient, sie hält viele Überraschungen bereit. »Galileo meets Kopernikus« ist eine lohnenswerte Tanzkreation: inhaltlich, optisch, ästhetisch, musikalisch und natürlich tänzerisch. Am 22. Oktober wieder im Stadttheater zu sehen.
Dagmar Klein, 10.10.2011, Gießener Allgemeine Zeitung