Belcanto aus der ersten Reihe Gießen entdeckt Giovanni Pacinis Maria Tudor - Opernwelt

27.04.2012

Belcanto aus der ersten Reihe
Gießen entdeckt Giovanni Pacinis "Maria Tudor"!

Giovanni Pacini? Ein weithin versunkener Name aus der Sphäre der Belcanto-Oper. 1796 in Catania zur Welt gekommen, hinterließ der Komponist bei seinem Tod angeblich über hundert Opern. Schon in Jugendjahren in Mailand debütierend, fand er sein durchweg in Italien verbrachtes Leben bedeutend genug, um eine Autobiografie zu schreiben. Findige Opernjäger können hier und da ein paar (apokryphe) Mitschnitt-Zipfel von Pacinis Musik aufspüren. Man kann sich’s jetzt aber auch bequemer machen und nach Gießen fahren. Im dortigen Stadttheater ist derzeit Pacinis <<Maria Tudor>> (<<Maria Regina d’Inghilterra>>) zu erleben, ein Werk aus seiner mittleren Schaffensperiode, 1843 komponiert. Belcanto aus der ersten Reihe, sozusagen.

[...]

[...]


Das hat nichts mit Maßstabverlust zu tun. Gießen ist Gießen. Aber diesmal doch auch ein bezaubernder Ort gesanglicher Vitalisierung im gekonnten <<Italianissimo>>. Multinationale Ensemblequalitäten sind auch in der mittelhessischen Provinz eine selbstverständliche Tugend. So konnte man staunen über einen Tenor (Lenoardo Ferrando), der Fähig war, lang ausgehaltene Töne so exzellent zu formen, dass aus einem zarten Pianissimo heraus allmählich ein freies Forte strömte, das dann wieder in einen mustergültig decrescendierten Schluss zurück geführt werden konnte. Fernaller Stimmstemerei ein exemplarisch nuanciertes, jugendlich-kraftvolles Singen, zudem verbunden mit einer charakteristischen Bühnenpräsenz, die das Lässig –Ganovenahfre dieses betrügerischen Gentleman noch weit über die Signale der playboymäßigen Schottenkarohose hinaus klarstellte. Beeindruckend auch der  Bariton Adrian Gans als gnädig davongekommener Todeskandidat Ernesto-ein in seiner virilen Vehement in jedem Moment zuverlässiges Organ. Maria Chulkova als Clotilde; mädchenhaft, verletzlich und in den Duetten des zweiten und dritten Akts eine der Königen ebenbürtige Gestalt. Diese schließlich hatte in der Verkörperung von Giuseppina Piunti ein beinahe schon übermenschliches Format, ausgestattet mit einer gleichsam<<gerüsteten>> Stimme, mit umweglos und jäh anspringenden Spitzentönen, aber auch einer wunderbar zeichnerisch klaren Art des Liniengesangs.

[...]

Joachim Rathkes Inszenierung gab sicher erfahren, ohne in bloße Routine abzugleiten. Lukas Noll beschäftigte die Drehbühne ausgiebig und brachte das Bühnenbild damit zu bestmöglicher Wirkung- einen kryptaähnlichen Innenraum mit Rundbögen und Spitzgiebeln, sozusagen doppelt kodiert als Szenerie eines historischen Schaustücks wie als Fantasy-Leidenschaft (zu Letzterem passte auch einiger blinkende Kostümspuk der Choristen). Leicht plärrende, aber substanzielle Eindrücke des (ziemlich viel beschäftigten) Chores. Bemerkenswert nicht nur der Schwung, sondern auch die instrumentalen Subtilitäten des von Eraldo Salmieri animierten Orchesters.

Gießen bleibt Gießen, also eine nicht glatt-Wegs den Himmel erstürmende Theaterstadt. Und trotzdem geschieht hier mit der Intendantin Cathérine Miville Außerordentliches. Eine Theaterarbeit, die sich billigen Erfolgsrezepten verweigert und in der Oper jetzt konsequent die Kenner und Liebhaber anlockt. Vor Kurzem wurde Foltows völlig vergessener <<Allessandro Stradella>> wiederentdeckt, im Mai ist eine verkleinerte Fassung von der Berg’schen <<Lulu>> mit einer eigenen Aufführungsvariante für den dritten Akt aus der Hand der philologisch bewanderten Eberhard Kloke geplant.

Von Hans-Klaus Jungheinrich, Mai 2012, Opernwelt