Der Papst tanzt - Frankfurter Rundschau

13.10.2011

Der Papst tanzt

In Gießen beschäftigt sich Tanzchef Tarek Assam mit astronomischen Umbrüchen
Schauspiel- und Opernchefs habe es leicht: Aus einer Fülle von Werken können sie schöpfen, Jahrhunderte durchmessen. Die künstlerischen Leiter von Tanzensembles aber müssen jede Saison und in der Regel mehr als einmal pro Saison ein Stück erarbeiten mit neuem Sujet oder mindestens neuer Choreografie, falls es ein Stoff wie „Romeo und Julia“ oder „Dornröschen“ ist. Das Tanzerbe ist äußerst überschaubar, und viele moderne Werke sind so mit einer bestimmten Company verbunden, dass sie kaum anderswo getanzt werden können.
Am Stadttheater Gie0en ist Tarek Assam schon fast zehn Jahre lang derjenige, der sich immer wieder Originales und Originelles einfallen lassen muss. Diesmal hat ihn der astronomische Umbruch vom geo- zum heliozentrischen Weltbild beschäftigt. „Galileo meets Kopernikus“ heißt sein zweistündiger Tanzabend, der eher hätte heißen sollen: Astronomie trifft Religion. Aber immerhin ist er in einige bereitstehende Tanztheater-Fallen nicht getappt.  Vor allem ist er so klug, weitgehend zu abstrahieren und nur einen Astronomen zu zeigen – Alfonso Hierro-Delgado ist dieser engagierte junge Wissenschaftler -, da man das Galileo- oder Kopernikus-Sein sowieso nicht tanzen kann. Gegenspieler ist der Papst: Ein ziemlich lächerlich aussehendes Käppchen aus weinrotem Samt plus vorm un hinten ein aufgemaltes Kreuz auf dem nackten Operkörper muss der Papst-Darsteller Sven Krautwurst tragen; keine gute Entscheidung von Lukas Noll, dessen Bühne und paradiesvogelhaft üppigen Kostüme ansonsten gefallen.
Aber auch die Choreografie Tarek Assams macht den Papst allzu harmlos. „Bedrohung durch die Inquisition“ heißt eine Szene – sehen tut man sie nicht. Einmal liefern sich der Papst und der Astronom einen kleinen Sternbilder-Benennungswettstreit, der eine ist für Latein, der andere für das weltliche Deutsch. Das Oberhaupt der katholischen Kirche wirkt vielleicht wie ein Besserwisser – wie ein gefährlicher Besserwisser wirkt er nicht.
Um die beiden Hauptfiguren hat Assam ein buntes Völkchen ohne spezifische Rollenzuweisung drapiert. Zwar erkennt man zum Beispiel zwei Nonnen und einen Art Kreuzritter, ein engelartiges Wesen auch: aber es bleibt doch jedem überlassen, was er herauslesen  will aus den verspielten Kostümen. Und wenn das alte Weltbild dann gestürzt ist, kommen die Tänzerinnen und Tänzer in moderner Kleidung wieder.
Auch durch seine Musikwahl stellt Tarek Assam die alte Welt gegen die neue: Canzoni von Giovanni Gabrieli gegen Wuchtiges manchmal Jazziges des Neuseeländers John Psathas.
Die bewegungssprachliche Differenzierung der Figuren macht Assam Mühe, zu ähnlich sind sich vor allem der Papst und er Astronom in ihrem Körperausdruck. Aber die Kunst, mittels Bewegungsdifferenzen Charaktere zu zeichnen, ist so rat, dass man die betreffenden Choreografen an der Fingern zweier Hände abzählen kann. Sylvia Staude, 11.10.2011,  Frankfurter Rundschau