Fest der schönen Stimmen zur Spielzeiteröffnung - Gießener Anzeiger

05.09.2011

Maria Chulkova und Abdellah Lasri als Traumpaar in Gießener „La Bohème“ gefeiert

Es konnte gar nicht anders kommen: Zur Spielzeiteröffnung im Gießener Stadttheater stand am Samstagabend Giacomo Puccinis Oper „La Bohème“ auf dem Programm, und wie nicht anders zu erwarten, geriet der Premierenabend zu einem strahlenden Sängerfest, zu einem Fest der schönen Stimmen. Mit minutenlangem Applaus überschüttete das Publikum die jungen Sängerdarsteller - allen voran Maria Chulkova aus dem hauseigenen Ensemble als schwindsüchtige Mimi und Abdellah Lasri, der Gast aus Berlin, als ihr glühender Liebhaber Rodolfo.
Wie sehr das sympathische Traumpaar des Abends die Herzen bewegt, zeigte sich nach der zweieinhalbstündigen Aufführung auch daran, dass sich die Zuschauer geradezu in einen nicht enden wollenden Taumel klatschten. Dabei drückten sie gerne das eine oder andere Auge bezüglich der Inszenierung zu. Denn die szenische Kargheit und Düsternis, die Regisseur Helmut Polixa in seiner zwölften Gießener Opernproduktion zusammen mit Bastian Trieb (Bühne) und Tina Hempel (Kostüme) im Kontrast zu der mit Gefühlen aufgeladenen Musik Puccinis zeigt, war am Premierenabend neben den herausragenden Gesangsleistungen das hervorstechende Thema.
Keine Künstlerromantik
Polixa hat mit Bühnennaturalismus nichts im Sinn und möchte auch mit der oft verklärenden Vorstellung vom freien, ach so romantischen Künstlerleben gründlich aufräumen. Er will dagegen vor Augen führen, dass sich die Bohemiens ihr Los selbst gewählt haben, dass sie in Enge, Kälte, Entbehrung und Isolation von der bürgerlichen Gesellschaft ihr Dasein fristen und dass sie unfähig sind, die Probleme des Lebens zu bewältigen.
Um die Enge der Behausung deutlich zu machen, hat Bühnenbildner Bastian Trieb ein blaues Konstrukt aus Metallstangen, Heizungsrohren und einer Treppe geschaffen, das ein wenig an einen futuristischen Hochsitz erinnert. Es könnte aber auch eine sonderbare Schöpfung des Erfinders Daniel Düsentrieb aus dem Hause Disney sein. Auf der Plattform dieses Hochsitzes ist es nun wirklich so eng, dass sich die Darsteller fast gegenseitig auf den Füßen stehen. Rundum ist schwarze Nacht. Nur ein weißer Streifen Leinwand, auf der man als Motiv der Sehnsucht hin und wieder Wildgänse fliegen sieht, hellt die Szene ein wenig auf. Unheilschwangere Düsternis umgibt auch den Weihnachtsmarkt im Quartier Latin. Die einheitlich in schwarze Mäntel und Wollmützen gehüllten Mitglieder des Chores und des Kinder- und Jugendchores (Einstudierung: Jan Hoffmann, Martin Gärtner) bewegen sich als dunkle Menschenmasse über die Drehbühne, während ein paar Lichterketten von der Decke so etwas wie Weihnachtsstimmung andeuten.
Besonders diese Szene beißt sich mit Puccinis Vorstellungen, der ja das Atmosphärische in seiner „Bohème“ stark in den Vordergrund stellte. Doch so sehr es Polixa auch gelingen mag, die seelischen Vorgänge der Personen und ihre Beziehungsgeflechte bloßzulegen, so sehr lässt er Atmosphäre und Kolorit vermissen. Stattdessen Kälte - aber das ist so gewollt.
Dynamische Bandbreite
Als neuer Generalmusikdirektor am Pult des Philharmonischen Orchesters Gießen heizt Herbert Gietzen die karge Szenerie mit Klangsinnlichkeit und einem kräftigen Schuss Italianità auf. Mit größter Genauigkeit hält er sich an die Partitur mit ihrer Fülle an melodischen Einfällen, die sich nicht nur in den ariosen Passagen, sondern auch in den zahlreichen Ensembles offenbaren. Jede Einzelheit ist musikalisch meisterhaft geschildert, und die Herzenswärme der Menschen entzündet sich an innigen Melodien. Das gut disponierte Orchester schöpft die ganze dynamische Bandbreite aus - vom samtigen Streicherfunkeln bis zur vollen Wucht der Tutti souverän. Allerdings hapert es einige Male bei der Abstimmung zwischen Orchester, Chor und Sänger, aber das wird sich noch abstellen lassen.
Leuchtende Höhe
Abdellah Lasri ist ein Tenor, der schon beim ersten Ton aufhorchen lässt. Als Rodolfo verfügt er über leuchtende Höhen, bleibt aber auch die von Puccini geforderten zarten Lyrismen nicht schuldig. In den Arien und Duetten mit Mimi entfaltet er ohne jegliches Stemmen seine jugendlich-strahlende Stimme. Lasri macht in jedem Augenblick die große Verliebtheit Rodolfos glaubhaft und lässt in der Bravourarie „Che gelida manina“ seinen Tenor scheinbar mühelos so klar und fein emporschwingen, dass es eine reine Freude ist, ihm zuzuhören. Die ersten Bravorufe des Premierenabends durfte er völlig zu Recht für sich verbuchen.
Die perfekte Partnerin für ihn ist Maria Chulkova, die als Mimi eine ebenso anrührende wie intensive Vorstellung gibt. Auch ihr makelloser Sopran verbreitet Glanz und Wohllaut, und ihr Gesang ist voller Gefühl und Anmut. Selbst bei dramatischen Steigerungen, die sie allesamt mit größter Souveränität zu nehmen versteht, verkörpert sie immer die liebliche, zarte Person, deren Schicksal alle zu Tränen rührt.
Einen kraftvollen, selbstbewusst tönenden Maler Marcello stellt Adrian Gans dar, wobei er seinen mächtigen Bass wirksam zur Geltung bringt. Wenn sich Marcello mit seiner Freundin Musetta zankt, tritt das komische Element hervor. Diana Chavarro setzt sich als temperamentvolle Musetta mit ihrem nuancenreichen Sopran prächtig in Szene, und Stephan Bootz setzt gekonnt als Philosoph Colline mit seinem Abschiedslied an den Mantel in puncto Komik noch einen drauf. Herbert Wüscher als Parpignol, Siegfried Lenkl als Vermieter Benoit, Giorgi Dabaidze und Paul Przybylski als Zöllner runden mit ihren Leistungen den guten Gesamteindruck ab.
05.09.2011, Thomas Schmitz-Albohn, Gießener Anzeiger