Handfeste Polka-Rhythmen - Gießener Anzeiger

13.02.2012

Handfeste Polka-Rhythmen

In Schottland ist Krieg. Die Clans kämpfen gegen die feindlichen Engländer und fallen sogar übereinander her. Besonders grausame Protagonisten jener Zeit sind Macbeth und seine Gattin Lady Macbeth. Sie schrecken sogar vor Morden nicht zurück, um sich mehr Macht und Einfluss zu verschaffen. Doch in den Highlands herrschen unangefochten seit Alters her die Hexen. Sie beglücken und verschrecken die Menschen, sind Botinnen aus einer anderen Welt.
Soweit das bekannte Szenario aus William Shakespeares Charakterdrama „Macbeth“. Das Erfolgsteam rund um den Gießener Tanzdirektor Tarek Assam und den australischen Choreografen David Williams hat wieder alle kreativen Hebel in Bewegung gesetzt, damit sich der Klassiker nicht in ausgetretenen Pfaden verliert. Wirkungsvoll unterstützt wurden sie dabei von Bühnenbildner Fred Pommerehn und Kostümbildnerin Gabriele Kortmann. Das Publikum war begeistert: Minutenlanger Applaus belohnte alle Mitwirkenden, seien es die Tänzer, die fünf Musiker der Gruppe „lines and rhythm“ und die künstlerische Leitung. Statt zu klassischen Klängen bewegen sich die Tänzer zu jazziger Livemusik der Gießener Musikergruppe „lines and rhythm“.
Dies vor allem ist das innovative Element dieser Choreografie, von den Zuschauern besonders gefeiert. Schließlich sind die Musiker bei den meisten aus der Jazz- und Rockmusikszene längst bekannt: Manfred Becker (musikalische Leitung) trat im Lauf seiner Karriere bereits in unterschiedlichen Formationen der regionalen Jazzszene auf. Zudem komponierte er Stücke für Theater und Film. In „Macbeth“ zog er nun mit Akkordeon und stolzer Punkfrisur über die Bühne, denn in dieser Choreografie saßen die Musiker nicht im Orchestergraben, sondern waren als Götter direkt ins Geschehen mit einbezogen. Die Welt der keltischen Gottheiten präsentierte sich auf der Drehbühne als mehrstöckiger Pub und Tanzklub: Joe Bonica (Schlagzeug), Andreas Jamin (Posaune), Stefan Schneider (Bass) und Helmut Fischer (Piano) hatten sich hier mit ihren Instrumenten eingerichtet. War zu Beginn während der kriegerischen Auseinandersetzungen noch reichlich Free Jazz mit durchdringenden Posaunentönen zu hören, konnten die Klänge beim Verzweiflungsausbruch der Lady Macbeth auch ganz warm und groovig werden. Und die Musik im Jenseits, wo sich alle Verstorbenen wieder trafen, war vollends aus einer anderen Welt. Nicht feine Sphärenklänge drangen durchs Theater, sondern handfeste Polkarhythmen mit viel Temperament und Melodik.
Doch zurück in die Welt des Macbeth, meisterlich dargestellt von Christopher Basile. Er hatte die schwierige Rolle, den Wandel des einst getreuen schottischen Feldherrn zum Königsmörder glaubhaft zu vermitteln, und das allein durch tänzerisches Potenzial und die Ausdruckskraft seines Körpers - ganz ohne die Wortgewalt eines William Shakespeare. Doppelt schwierig wurde das Unterfangen, weil die Choreografen Blutvergießen vermeiden wollten, am Ende sind die Toten lediglich mit einem roten Farbstrich im Gesicht gekennzeichnet. Kein Hauen und Stechen auf der Bühne, vielmehr tritt der Tod eher versteckt auf. So reicht Lady Macbeth dem König den Schierlingsbecher. Das Mörderische und Böse ist nicht auf den ersten Blick zu entdecken.
Eine Stelle allerdings ist dann doch besonders beängstigend: Macbeth lässt seinen Freund Banquo laut Shakespeare durch Mörder umbringen. In der Gießener Inszenierung sind das schwarze, kapuzenverhüllte Gestalten, die wie Krähen mit lautem Gekreische das arme Opfer (glaubhaft als Banquo: Sven Krautwurst) zu Tode quälen. Sofort wird der Zuschauer an die grausamen Überfälle in deutschen U-Bahnen erinnert. Mit Szenen wie dieser zeigen die Choreografen, dass die Tragödie aus der Renaissancezeit heute durchaus Aktualität besitzt. „Wahrscheinlich mehr Aktualität als seit vielen Jahren“, sagte Tarek Assam dazu in einem Interview.
Eine weitere Szene, die direkt den Nerv des Publikums trifft, ist der Selbstmord der Lady Macbeth. Mit großem tänzerischen Geschick zeigt Magdalena Stoyanova den ausbrechenden Wahnsinn, die sinkt zusammen, reißt sich Büschel von Haaren aus dem Kopf, um sich dann ein letztes Mal gegen ihre Schuldgefühle und das Schicksal aufzubäumen. Großes Tanztheater.
Zum Glück holen sie sofort die drei Hexen ins Jenseits ab, denn dort geht es, wie erwähnt, durchaus lustiger zu. In der Inszenierung der Tanzcompagnie Gießen sind die Hexen freche Wesen mit moderner Kurzhaarfrisur und transparenten Kostümen. Mit flinken und lasziven Bewegungen bezirzen sie die Menschen, und dieses Metier beherrschen die Tänzerinnen Ekaterine Giorgadze, Hsiao-Ting Liao und Mamiko Sakurai ganz ausgezeichnet.
Die schottischen Kämpfer und die Damen des Hofstaats auf der anderen Seite tragen viel schwarzes Leder und sind nur durch kleine Tücher oder Embleme im typischen Karomuster als Schotten gekennzeichnet. Als Krieger und Hofstaat bewährten sich Clémentine Herveux, Hsiao-Ting Liao, Edina Nagy, Robina Steyer; Keith Chin, Alfonso Hierro-Delgado, Jeroen Van Acker, Morgane de Toeuf und weitere Mitglieder der Tanzcompagnie Gießen.
Und noch ein kleiner, aber feiner Einfall soll erwähnt werden: Auch die schottische Krone ist ganz im Karo-Look gehalten. Ein paar Klischees müssen schon erlaubt sein. Dazu gehören auch die Rauchschwaden, die ständig über die Bühne zogen. Ohne Nebel sind schließlich die schottischen Highlands kaum vorstellbar.
Summa summarum: kurzweilig und sehenswert mit vielen choreografischen und musikalischen Highlights. Ursula Hahn-Grimm, 13.02.2012, Gießener Anzeiger