„Hotel Savoy“ in Klaus Hemmerles Inszenierung als sinnlicher, lebenspraller Bilderbogen - Gießener Anzeiger

09.01.2012

„Hotel Savoy“ in Klaus Hemmerles Inszenierung als sinnlicher, lebenspraller Bilderbogen

Kaufleute, Fabrikanten, Schieber, Varietékünstler, leichte Mädchen und Kriegsheimkehrer - sie alle wohnen in dem Hotel Savoy in einer polnischen Kleinstadt nahe der russischen Grenze. Sie leben hier wie in einem Wartesaal. Aber auf was sie warten, das weiß nicht jeder so genau. Der Besucher ist in Joseph Roths „Hotel Savoy“ angekommen und darf in der neuesten Schauspielproduktion des Gießener Stadttheaters einen Blick in dieses merkwürdige Etablissement mit seinen bunt zusammengewürfelten Bewohnern werfen. Über zweieinhalb Stunden entfaltet Gastregisseur Klaus Hemmerle mit Einfühlungsvermögen, Einfallsreichtum und sehr viel Sinn für bildhafte Momente nach Roths Roman einen sinnlichen, lebensprallen Bilderbogen mit allerlei kuriosen Charakteren. Grundlage seiner Inszenierung ist die Bühnenversion von Koen Tachelt.
Hemmerle tut genau das, was auch Joseph Roth (1894 bis 1939) in seinem zweiten, 1924 erschienenen Roman getan hat: Er nimmt jede noch so bizarr erscheinende Figur in diesem überbordenden Panoptikum ernst und gibt sie niemals, auch wenn noch so viel Ironie und Witz im Spiel sind, der Lächerlichkeit preis. Er horcht in diese zum Teil gestrandeten Existenzen mit ihren leerlaufenden Sehnsüchten und erkalteten Beziehungen hinein. Und wo bei Roth eine Person oft nur mit wenigen, knappen Strichen hingestellt ist, da geben die Mitglieder des mit Spielfreude und Herzblut agierenden Ensembles in kleinen, gelungenen Charakterstudien den Figuren Kontur. Diese Miniaturen blitzen meist nur für wenige Sekunden auf, tragen aber zum facettenreichen Gesamtbild dieser bunten Schau bei, sei es der Magnetiseur aus Indien, der verarmte rumänische Notar oder der unruhig sprudelnde Geschäftsmann, der eine Fabrik für Juxgegenstände aufmachen möchte.
In Gesellschaft all der schillernden Existenzen fühlte sich das Premierenpublikum am Samstag offensichtlich sehr wohl und spendete den Mitwirkenden am Ende reichlich Beifall.
Transparentes Haus
Es versteht sich von selbst, dass das Bühnenbild nicht das einstige Prachthotel mit seinen sieben Stockwerken und 864 Zimmern, sondern lediglich eine bildnerische Idee davon zeigen kann. Durch die simultane Erzählführung der verschiedenen Schicksale in Roths Roman erhalten die Mauern des Hotels eine Art Durchsichtigkeit, die das Haus in einer Querschnittszeichnung erscheinen lässt. Von einer solchen Transparenz ist auch der von Bühnenbildnerin Johanna Maria Burkhart entworfene Schauplatz. Sie verlegt das Geschehen auf die Hotelflure und lässt die Zuschauer im ersten Teil des Abends durch einen Gazévorhang auf eine Treppenlandschaft mit auf- und absteigenden Treppen blicken (Escher lässt grüßen). Und dann gibt es da noch den auf- und abfahrenden Fahrstuhl mit dem mysteriösen Liftboy. Schlaglichter (Lichtregie: Kati Moritz) heben die einzelnen Menschen hervor, und Dunkelheit lässt das Hotel komplett verschwinden. In den Kostümen von Yvonne Forster spiegelt sich sowohl die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg als auch unsere Gegenwart wider.
Epische Elemente
„Hotel Savoy“ auf der Bühne! Ein Drama im klassischen Sinne, in dem sich der Konflikt aus Rede und Gegenrede entwickelt, ist nicht zu erwarten. Man trifft hier eher Elemente des epischen Theaters an. Die Figuren erzählen viel von sich und ihrer Gefühlslage, erklären ihre Handlungen, beschreiben die Örtlichkeit und die jeweilige Situation. Und sie treten heraus aus ihren Rollen, indem sie zusammen singen oder musizieren. Dabei fällt wieder einmal auf, wie viele gute Instrumentalisten das Gießener Ensemble aufzuweisen hat: Mirjam Sommer und Milan Pesl spielen Gitarre, Lukas Goldbach Trompete, und Rainer Hustedt legt als amerikanischer Millionär Bloomfield ein Solo am Saxofon hin. Die jeweiligen Gemütszustände werden zudem von dem Musiker Wolfram Karrer mit seinem Akkordeon unterstrichen. In seinem Spiel klingen Klezmer und osteuropäische Weisen dezent an. So lebt in der Inszenierung auch das von Roth geschilderte Milieu des ostjüdischen „Schtetls“ sehr stimmungsvoll auf, ohne kitschig zu werden.
Eine Riesenrolle hat Frerk Brockmeyer als Kriegsheimkehrer Dan Gabriel übernommen. Als Ich-Erzähler im Roman ist er die Bezugsperson für alle anderen. Brockmeyer ist von Anfang bis Ende auf der Bühne, hat eine immense Textmenge zu bewältigen, und füllt seine Rolle souverän aus. Zuweilen mischt er dem Heimkehrer, bei dem das Gefühl des Wartezustands, des Lebensprovisoriums, am ausgeprägtesten ist, das ungläubige Staunen eines großen Jungen bei.
An seiner Seite spielt Milan Pesl den Kriegskameraden Zwonimir Pansin mit Pelzmütze und Militärstiefeln als sympathischen, anarchistischen Quertreiber, der ebenso gut Volksreden hält, wie er Lieder zur Gitarre singt. Er strahlt Vitalität und Lebensmut aus, und so, wie er gestikuliert und eindringlich spricht, muss man sich einfach von ihm mitreißen lassen.
Roman Kurtz gibt nicht nur den geheimnisvollen Liftboy Ignatz, der sich mit förmlichen, steifen Reden und Gesten von allen anderen distanziert, sondern fungiert auch als Erzähler, der mit den verschiedenen Bewohnern des Hotels vertraut macht.
Mirjam Sommer zeigt uns das „süße Mädel“ Stasia mit knackigem Po und Federschmuck im Haar. Wenn Gabriel Dan in ihren großen, ausdruckvollen Augen zu lesen verstünde, wüsste er, dass sie ihn liebt.
Ana Kerezovic macht sowohl als schwangere, russisch palavernde Frau Santschin als auch als angesäuselte Puffmutter Jetti Kupfer mit kupferrotem Haar Eindruck. Und Lukas Goldbach ist rührend als sterbender Clown Santschin und komisch als schwuler Friseur Columbus. Harald Pfeiffer hütet sich davor, den reichen Onkel Phöbus Böhlaug als komische Figur erscheinen zu lassen; auch der von ihm verkörperte Lotterieträumer Hirsch Fisch trägt eher tragische Züge. Corbinian Deller wechselt zwischen dem Fabrikanten Neuner und dem unbekümmerten Dandy Alexander hin und her, und Petra Soltau trifft in der Rolle des Militärarztes den Ton des alten Zynikers ganz genau.
Mit langem Bart und schwarzem Hut ist der jüdische Devisenhändler Abel Glanz in Rainer Hustedts Darstellung eine Gestalt wie aus einem Bild von Marc Chagall. Hustedt zeigt, dass sehr viel Lebensweisheit in dieser Rolle steckt. Auch als Millionär Bloomfield spielt er keineswegs einen kalten, reichen Mann, sondern einen, der viel Verständnis für die Menschen seiner Heimatstadt aufbringt.
Thomas Schmitz-Albohn, 09.01.2012, Gießener Anzeiger