Immer wieder großartig - Musicals

21.03.2012

CABARET Immer wieder großartig

Nur Pluspunkte – fürs quicke Ensemble, die süffig gespielte Musik, die bunte Ausstattung und die schlüssige Inszenierung. Nach zweieinhalb Stunden mussten sich die Darsteller immer wieder an dem Beifall stellen. Intendantin Cathérine Miville hat nämlich keine Nummernrevue inszeniert, obwohl die bekannten Ohrwürmer wie der Titelsong oder „Willkommen“ in ihren glitzernden Stellenwert behalten dürfen. Die Gießener Produktion ist eher zwischen Kammerspiel und Show angesiedelt. Die menschliche Seite der vergeblich Liebenden, Showgirl Sally und Schriftsteller Cliff sowie Obsthändler Herr Schultz und Zimmervermieterin Fräulein Schneider, wird in feinen Sprechszenen stringent entwickelt. Die Gießener Zeitungen benoten diese Variante mit „Dialoglastigkeit“, doch gerade in den gesprochenen Texten wird die braun drohende Gegenwart deutlich. Miville genügen eine Hakenkreuzbinde und strohblonde Zöpfe der Kinder bei der Hymne „Der morgige Tag ist mein“ (Einstudierung: Martin Gärtner)

Harald Pfeiffer (Herr Schultz) und Petra Soltau (Fräulein Schneider) sind Darsteller mit Herzblut, Sinn für theatrales Timing ohne Karikatur. Da gibt es rührende Szenen zwischen Befangenheit und Zuneigung, angesiedelt im kleinbürgerlichen Milieu unterhalb der opulenten Karussells. Pfeiffer sind in dieser Inszenierung nicht das kritische Chanson vom Miesnik, sondern färbt die Herkunft des Juden Schultz mit dem melancholischen Lied „Spiel, Klemzer, spiel“. Matthias Moebius (Kostüme und Bühne) hat variable Spielfläche auf die Bühne gezaubert. Auf dem Karussell räkeln sich die Kit-Kat Girls auf den Pferdchen, stolziert der Conférencier in vielen attraktiven Kostümen die Showtreppe herunter, wippen die Beine der Tanzcompangie (Choreographie: Anthony Taylor und Tarek Assam), hebt und senkt sich das Licht umflutete. Ein akustischer und optischer Gag ist der Auftritt von drei Saxophonen und einer Posaune zum bekannten Zitat des Entertainers „even the orchestra is beautiful“: die Gäste aus Mainz im skurrilen Outfit räumen ab. Das gilt auch für das Philharmonische Orchester unter Andreas Kowalewitz (Gärtnerplatz Theater München), das dezente Barmusik der 20er-Jahre swingt und mit einem sentimentalen Akkordeon die grelle und triste Story erzählt.

Sie wird auch geprägt von Rollen, die weit über die unhöfliche Bezeichnung „Nebenrolle“ hinausgehen. Pascal Thomas (Cliff), Marie-Louise Gutteck (Fräulein Kost), Lukas Goldbach (Ernst Ludwig) geben ihren Figuren Profil und Glaubwürdigkeit.
Vom Rollenumfang und durch die Ohrwürmer des bundesweit so häufig gespielten Musicals im Vordergrund die Stars der Show: Andrea Matthias Pagani (Conférencier) und Sophie Berner (Sally Bowles). Pagani, als Che schon in Gießen, verführt mit sparsamen Gesten eher hinter- als vordergründig, muss nicht wie 2009 in Bad Vibel über die Bühne hinken und zeigt einen Conférencier der leisen Töne. Sophie Berner begeisterte als Sally u.a. bereits in Berlin und wird nun am Berliner Platz in Gießen ebenso gefeiert. Die dominiert die Bühne, tanzt, singt, lebt und leidet diese zwielichtige Figur, wickelt Ensemble und Publikum um den kleinen Finger. Zudem besitzt sie eine raumergreifende Stimme, die sie auch zurück nehmen und im Finale die Brüchigkeit ihres Glamour Daseins fühl- und hörbar machen kann. – Volltreffer!

Peter Merck, Februar 2012, Musicals