Mit allen Gewürzen italienischer Opernleidenschaften - Der Opernfreund

02.04.2012

Mit allen Gewürzen italienischer Opernleidenschaften: Pacinis Maria Tudor ausgegraben

Giovanni Pacini (1796 – 1867) gehört zeitlich etwa in die Ära des Belcanto-Triumvirats. Seine „Maria Regina d’Inghilterra“ (deutscher Titel: „Maria Tudor“) kam 1843 mit großem Erfolg in Palermo heraus, erlebte viele Aufführungen bis 1858, ging dann in der Verdimania unter und wurde erst 1983 in England wieder“entdeckt“. In Gießen erlebte nun das Werk seine deutsche Erstaufführung. „Maria Tudor“ ist einer von etlichen Opernstoffen im italienischen Belcanto, die einen historischen Stoff aus dem England des 16. Jhdts. thematisieren und beruht auf Victor Hugos gleichnamigem Schauspiel, nach welchem Leopoldo Tarantino das Libretto schrieb.
In Maria Tudor gibt es nicht die stereotypen Personalkonstellationen der italienischen Oper der Epoche: entweder die Dreier- oder Drei+Eins-Konstellation. Vielmehr agieren hier fünf etwa gleichwertige Hauptpersonen, unter denen keine ist, die Publikumssympathie erwerben könnte. Da ist die absolutistisch herrschende leichtlebige Königin Maria; sie ist nicht ohne Hintergedanken; da sie die Handlungskontrolle aus der Hand gibt, ist sie die Verliererin. Der alte Haudegen Gualtiero Churchill, der sich der Königin nicht unterwirft, seine Umgebung besticht und seine eigenen persönlichen Macht- und Rachegelüsten frönt. Der „Schotte“ (als solcher vom englischen Volk gehasst) Riccardo Fenimoore, ein smarter Beau, der lügt, betrügt, untreu ist und Erbschleicherei betreibt. Die Clotilde Talbot: ebenfalls untreu und verlogen (gar nicht so unschuldig: vielleicht auch die „edle“ Dirne). Der Außenseiter Ernesto Malcolm aus dem Volk, der mit einer teuflischen Verleumdung Fenimoore ins Verderben stürzt. Der Page, den die Regie stets schleichend und lauschend auf der Bühne bewegt. Und schließlich bestechliches Personal überall. Das ist vielleicht aber auch der einzige durchgängige Regie“einfall“ von Joachim Rathke, der ansonsten das Geschehen nicht mit vielen originellen Einfällen auflockert, andrerseits aber auch keine Mätzchen veranstaltet. Die politisch-religiösen Aspekte des historischen Stoffes fallen schon im Libretto unter den Tisch. Die Inszenierung konzentriert sich folgerichtig darauf, die Charaktere der handelnden Personen zeichnen, was gut gelingt.
Die kurze Ouvertüre inszeniert bei geöffnetem Vorhang die Vorgeschichte: Hinrichtung der Talbots, Flucht der Clotilde. Das sehr gelungene Bühnenbild von Lukas Noll zeigt einen von auf dem Boden aufsitzenden drückenden Arkadenbögen umgrenzten Raum. Auf diesen Arkaden ruhen in erster Etage falsch herum sitzende Arkaden, die wiederum von großen Gratgewölben überspannt sind. Das Ganze ist auf einer Drehbühne t mit einem exzentrischen Drehteller untergebracht, auf welchem mal ein Thronsessel den Thronsaal oder ein anderes Mal ein großes Bett das Schlafgemach der Königin kennzeichnet. In ihrer Schwere und geringen Höhe wirken die Bögen auch bedrohlich und bedrückend. Durch die Drehung der Bühne werden die Spielflächen mal verengt, mal erweitert, mal wird Tiefe gewonnen, mal nur eine kleine Fläche vorne fürs Spiel gewährt. Mit dieser aufwändigen Bühnenkonstruktion werden die Szenerien (einfaches Haus des Ernesto Malcolm, Kronsaal und Schlafzimmer der Königin bis hin zum Verlies im Tower) durchaus glaubhaft gemacht. Dietlind Konold hat die Kostüme für die Produktion entworfen. Hervorstechend ist die Verkleidung der Königin zuerst zwischen Revue-Girl und rächendem Engel mit rotem Kleid und roter Augenmaske; dann tritt sie hochgeschlossen in einem Designergewand auf und schließlich besonders apart im modischen langen Kleid mit übergeworfener Krinoline. Auch ihre Maske verändert sich. Clotilde zuerst (typisch als Unschuldsfigur) in weißem Unterkleid, über das sie aber bei Hofe ein schönes weißes Rüschenkleid zieht, bis sie wieder in Unschuld und Unterkleid mit ihrem in einfachste Anzugsmode gekleideten Ernesto verbunden ist. Churchill in langem blauen Talar, zum Schluss mit Birett und Fenimoore mit geckenhafter karierter Hose. Der Chor ist eine Masse in schwarzer Latexkleidung und –kappen, bleich geschminkt. Joachim Rathke erzählt die Geschichte von Liebe, Hass, Täuschung, Eifersucht, Rache und Intrige einigermaßen stringent. Warum aber Churchill den Ernesto zum Opfer auffordert und auch die Königin ihn gleich bei der ersten Wahrnehmung zum Tode verurteilt, kann nicht glaubhaft gemacht werden. In vielen Strecken vermag die Personenführung des Regisseurs keine Spannung zu erzeugen und wird zudem etwas ungelenk umgesetzt. Daneben gibt es aber auch starke Einzelszenen (Schlussdarstellung der Königin!) und gelungene Massenszenen und Ensembles mit Orchester-Tutti: eine handwerklich ordentliche Arbeit, aber selten mitreißend. Auch nimmt der Regisseur die nimmt die Musik nicht immer auf, die z. B. in der Hinrichtungsszene des 3. Akts Musik einen langen dumpfen Trauermarsch intoniert, (vielleicht eine vorbei ziehende Prozession); da befinden sich aber nur vier Personen starr auf der Bühne. Am Schluss sieht sich die Verliererin Maria vom Gottes hellem Licht erleuchtet, das die Lichtregie (Kati Moritz) aber rot gestaltet…
Dass Pacini für die Komposition der Oper nur 23 Tage aufbrachte, wird hier und da an sehr einfachen und spärlichen Strecken der Musik deutlich. Dennoch legte er über lange Passagen eine handwerklich gut gearbeitete Partitur vor, die über den banalisierenden Klassizismus von Rossini hinausgeht, aber nicht über die Inspiration und Geschmeidigkeit seines Zeitgenossen Donizetti oder über die romantisierende Finesse eines Bellini verfügt. Dafür hört aber man schon die dramatisch effektvollen Passagen und Unisono-Chöre von Verdi. Das Philharmonische Orchester Gießen unter der Leitung des Gastdirigenten Eraldo Salmiero musiziert die Partitur überwiegend korrekt und ein wenig trocken, allerdings mit Wacklern in den Einsätzen, die etwas über das Gewohnte hinausgehen. Meistens sehr gut gelungen sind die Massenszenen und Ensembles, bei denen ein ordentliches Maß an Emotionen auch aus dem Graben tönte und bei denen die Musik gründlich ausgearbeitet ist. Nicht an allen Stellen wollte der Chor in sich und mit dem Graben in höchster Präzision zusammen gehen.
Das Glanzlicht im Gesang setzte an diesem Abend die italienische Sopranistin Giuseppina Piunti als Maria Tudor. Sie punktete mit einem warmen Mezzo-Timbre von schönem Schmelz und großer Geschmeidigkeit, aus welchem sie auch in leuchtende Höhen aufzusteigen versteht: reif und betörend. Ebenso ansprechend wie ihre gesangliche Leistung war ihre Bühnenpräsenz, was gleichermaßen für die Clotilde der Maria Chulkova galt, die mit einer silbrig hellen Stimme mit klaren Höhen gefiel. Sangliche Höhepunkt des Abends waren die beiden großen Duette der Damen mit ihren wunderbar kontrastierenden Stimmen. Weitere positive Akzente setzte der uruguayische Tenor Leonardo Ferrando: wieder einmal ein sehr heller, strahlender südamerikanischer Belcanto-Tenor. Er trat auf wie ein Papagallo – überheblich bis an sein abruptes Ende. Ferrando verfügte über einen sehr beweglichen höhensicheren Tenor und spielte mit großer Leidenschaft. Weniger gefielen Ihrem Berichterstatter die beiden tiefen Männerstimmen. Adrian Gans als Ernesto Malcolm erfreute das Publikum zwar mit seiner Stimmgewalt, aber für einen lyrischen Bariton fehlt ihm die Geschmeidigkeit und für einen Charakterbariton die Schwärze. In der Rolle des Gualtiero Churchill hätte man sich eher einen sonoren strömenden Bass vorgestellt, aber der von Riccardo Ferrari klang etwas unstet.
Ein Muss ist der Besuch dieser Produktion für “Opernsammler” allemalen, die diese Ausgrabung dankbar annehmen. Aber im Blick auf die Vertonungen historischer Stoffe von Donizetti versteht man, dass die Maria Stuarda in der Versenkung verschwunden ist. Das ziemlich zahlreich im Gießener Theater erschienene Publikum nahm die Produktion auch sehr dankbar an und spendete reichlich Beifall. Das Theater Gießen gibt Maria Stuarda noch am 8. und 28. April, am 5. und 17. Mai sowie am 7. Juni.
Manfred Langer, 30.03.2012; Der Opernfreund