Repertoiremut in Gießen - Der Opernfreund

02.04.2012

Repertoiremut in Gießen

Nach der wunderschönen Wiederentdeckung von Flotows komischer Oper "Alessandro Stradella", wagt sich das Stadttheater Gießen mit der deutschen Erstaufführung von Giovanni Pacinis "Maria, Regina d´Inghilterra" unter dem Namen "Maria Tudor" erneut erfolgreich an eine Rarität, dabei an ihre Belcantotradition der letzten Jahre anknüpfend. Pacini kann man musikalisch als Bindeglied zwischen Donizettis "Opern der neuen Kürze" und dem frühen Verdi, durch dessen Erfolge er dann wie Saverio Mercadante (in Gießen bekannt durch "Il Giuramento") in Vergessenheit geriet, bezeichnen. Die "Maria Tudor" geht um die katholische Königin Englands, auch als "Bloody Mary" bekannt; die Handlung ist eine typisch höfische Intrige ähnlich der in Donizettis "Roberto Devereux". Musikalisch durchzieht das Werk eine abwechslungreiche Grundspannung, die freilich mit der eingängigeren Ohrwurmqualität Donizettis und Verdis prägnanten Melodien nicht ganz mithalten kann, trotzdem eine interessante, effektvolle Partitur, durch die die unbekannte Grauzone zwischen Belcanto und Verdi näher beleuchtet wird, bereits dafür den Gießener Ausgräbern ein nicht zu unterschätzender Dank.
In dem düsteren Drehbühnenbild von Lukas Noll, das an feuchte Londoner Kavernen erinnern soll, findet sich eine Art menschliches "Insektenvolk" (ohne direkt an tierische Vorbilder zu gemahnen) in glänzenden, schwarzen Lack-und Lederkostümen. Joachim Radtkes Regie gibt zwar die Handlung eingängig wieder, doch wird oft zu viel Opernschablone inszeniert. Der ausgezeichnete Gießener Opernchor muß sich in merkwürdigen, kollektiven Handhaltungen ergehen. Für die Herren und den Chor sind Dietlind Konolds Kostüme noch gelungen, doch die eindimensionale Positionierung der verfolgten Unschuld Clotilde Talbot in weißer Unterwäsche, am Hof in einem gleichfarbenen Spitzenalbtraum mit Zwangsjackenärmel, oder gar die übersteigerten Kleider der Königin, erst als rote Gauklerprinzessin, dann in durchaus schicken Kleidern, die jedoch besser für eine Hanna Glawari gepasst hätten, fand ich als unpassend. Rathkes Inszenierung empfand ich in ihrer plakativen Optik nicht als großen Wurf, doch auch nicht allzusehr störend.
Unter Eraldo Salmieri spielte das Philharmonische Orchester Gießen nicht ganz ohne Wackler, jedoch einen gediegenen, schmissigen Belcanto; die von Pacini komponierten Instrumentalsoli wurden mit viel Sorgfalt und Liebe musiziert. Mit Giuseppina Piunti traf man in Gießen eine bekannte Belcanto-Heroine als Maria Tudor, die sich mit viel Verve besonders dem raren Repertoire widmet, doch durch die Zwischenfachpartien der letzten Zeit (Carmen, Werther-Charlotte, Santuzza) scheint sich die Stimme vor allem in der Tiefe und Mittellage in sattem Klang und Timbre wohlzufühlen, die Höhen kommen jetzt angestrengter und die Koloraturfähigkeit nicht mehr so geläufig, wie in meiner Erinnerung, trotzdem eine richtige Besetzung für diese weite Tessitur und ein großer Erfolg für die charismatische Künstlerin, deren Stimme sich besonders schön in den Duetten mit Clotilde mischte; Maria Chulkova brachte hierfür einen interessant bronzetimbrierten Sopran für die zweite Hauptrolle, exzellent in der Agilità und innig in der Empfindung. Der ungetreue Liebhaber, Riccardo Fenimoore, endet zwar am Schafott, doch gesanglich war Leonardo Ferrando als Belcantotenor mit Leichtigkeit und hellem Schmelz die "Granate" des Abends. Adrian Gans singt den ernsthaften Baritonpart des Ernesto Malcolm merkwürdigerweise auf zweierlei Arten, wenn er die Stimme loslässt, bekommt seine Leistung Glanz und Sicherheit, sprengt jedoch auch vom Volumen her die Dimension des Gießener Hauses; wenn er dagegen piano und auf Linie geht, so hat sein Bariton zwar immer noch einen schönen, eigentimbrierten Klang, doch wird seine Intonation sehr verschwommen. Mit Riccardo Ferrari kommt in der Partie des Kanzlers Churchill ein echter, italienischer Brunnenvergifter-Bass dazu, der leider sehr zu opernhaftem Pathos neigt, sein klerikal-angedeutetes Kostüm in Blau und Flieder sieht allerdings sehr wie ein Morgenmantel aus. Odilia Vandercruysse ist als Page glänzend überbesetzt und von großer Spielpräsenz, Vito Tamburro als Raoul ein adäquater Kerkermeister.
Die sogenannte "Provinz" hat mit dieser verdienstvollen Aufführung einmal wieder die "Nase" vorn, es seien alle Opernfreunde unbedingt eingeladen sich diese, vielleicht nicht perfekte, doch gute Aufführung solch einer Rarität anzuschauen.
Martin Freitag, 19. März 2012, Der Opernfreund