Rossinis Oper »Wilhelm Tell« im Stadttheater gefeiert - Gießener Allgemeine Zeitung

05.06.2012

Rossinis Oper »Wilhelm Tell« im Stadttheater gefeiert

Die Sängerpfeile treffen mitten ins Herz: Das Stadttheater Gießen zeigt Gioachino Rossinis Oper »Wilhelm Tell« als konzertante Aufführung. Das Publikum bejubelt die Premiere.
Natürlich trifft er mit dem Pfeil seiner Armbrust den Apfel auf des Sohnes Haupt und streckt ebenso wenig später den tyrannischen Landvogt Gessler damit nieder – nur sieht der Zuschauer im Stadttheater davon nichts in der Premiere von »Wilhelm Tell«. Die letzte Oper Gioachino Rossinis und dieser Spielzeit wird als konzertante Aufführung gezeigt, also ohne Bühnenbild und szenische Handlung.

Wir befinden uns im späten 13. Jahrhundert, der Tell-Mythos firmiert als Heldensage. Dazu gehören der Rütli-Schwur, der zur Gründung der Schweiz führt, der Sprung von der Platte am Vierwaldstätter See, Reiterhorden, Freiheitskampf und Gewitterstürme vor hochalpiner Kulisse – eine Grand opéra vom Feinsten. Zu sehen gibt es davon in Gießen nichts. »Wie sollen wir die Schweizer Berge zeigen?«, fragte Intendantin Cathérine Miville während der Matinee vor der Premiere. Antwort: Mithilfe eines geräumigen Prospekts im Bühnenhintergrund.

Am Sonntag jedenfalls standen die Solisten in Frack und Abendkleid am Notenpult vor dem Philharmonischen Orchester, das seinerseits vor dem Chor und Extrachor des Stadttheaters Platz genommen hatte. Die Sänger schmetterten ihre Soli, Arien und Terzette auf Italienisch, dazu gab es deutsche, bisweilen asynchrone Übertitel. Wie all das Gebotene hätte illustriert werden können, blieb der Fantasie des Betrachters vorbehalten: Gleichwohl gelang dem Ensemble mit seinen Gaststars eine packende Darbietung dieser Oper aus dem Jahr 1829, die mit ausführlichem Applaus und rhythmischem Klatschen belohnt wurde.

Wie ein Stern am Firmament glänzt Elisa Cho in der Partie
der habsburgischen Prinzessin
Mathilde. Die koreanische Sopranistin bezirzt mit ihrem klaren und reinen Sopran vom ersten Ton an, schraubt ihre Koloraturen in die strahlendsten Höhen und verfügt über ein enormes Pensum an Stimmkraft – traumhaft ihr Liebesduett mit Tenor Adrian Xhema als Arnold »Ja, du entreißest meiner Seele« – der atemlos machende Höhepunkt des gesamten Abends. Niemand klingt so eindringlich wie Elisa Cho.

Allenfalls noch Adrian Gans als Wilhelm Tell. Der Hausbariton ist mit einer Stimmgewalt gesegnet, die ihn alsbald an größere Häuser führen wird. In Gießen darf er bis dahin die Eleganz der Melodieführung verbessern sowie das Ausformulieren der Sentenzen, das Baritonkollege Tomi Wendt als Walter Fürst und Hirte Leuthold so elegant und verführerisch beherrscht.
Gans strahlt in puncto Klangvolumen mit Tenor Xhema um die Wette. Der in Gießen gern gesehene Gast verfügt über einen kraftvollen, schmelzigen Tenor und verwöhnt das Publikum ein ums andere Mal mit seinem volltönenden hohen C – im vierten Akt darf er es in der Cabaletta gleich sieben Mal zücken. Xhema wäre der Sängerheld schlechthin, wenn Gans nicht hier und da das volle Pfund ausgepackt hätte.

Das Volumenwunder tut es nur selten an diesem Abend: Im Duett mit Xhema »Wohin gehst du?« im ersten Akt und im Terzett im zweiten Abschnitt mit Xhema und Wendt »Was hör ich?« singt Gans im Fortissimo den im Brustton der Überzeugung brillierenden Tenorstar an die Wand. Es ist ein unglaubliches Erlebnis, diesem Bariton zu lauschen – das große Haus ist, wenn er es will, Gäns-lich in seiner Hand.

Sicher und mit schönen Höhen bezaubert Odilia Vandercruysse als Tells Sohn Jemmy. Die junge Sopranistin ist wie stets ein Garant für Wohlklang und Empfindungsreichtum. Stephan Bootz gibt seinen Gessler mit Ingrimm – so liebt ihn das Publikum. Auch die übrigen Solisten, Merit Ostermann, Leonardo Ferrando, Calin Valentin Cozma und Sang-Kiu Han, zeigen sich gut disponiert.

Das Orchester unter dem Dirigat von Generalmusikdirektor Herbert Gietzen beherrscht die Partitur mit Schwung und Leichtigkeit. Nach einem espritlosen Celloauftakt gelingt der Ritt durch die vierteilige Ouvertüre mit ihrem abschließen, rasanten Ohrwurmmarsch. Gietzen lässt den Melodienreichtum in Oboe, Klarinette und Flöten immer wieder aufblühen, animiert zu einer forcierten Gangart, die dieser Opera buffa guttut. Der von Jan Hoffmann einstudierte Chor glänzt in seinen zahlreichen Partien. Unterm Strich ein Abend voller furioser Musik und Sangeskunst. Der alte Connaisseur Rossini hätte, bei einem Glas edlen Wein, sicher seinen Spaß daran gehabt.
Manfred Merz, 04. Juni 2012, Gießener Allgemeine Zeitung