Satirisches Schauspiel „Hysterikon“ mit Reveucharakter im Gießener Stadttheater - Gießener Anzeiger

23.04.2012

Kommen Sie und sehen Sie selbst, was der neue bunte Supermarkt alles zu bieten hat. Räucherstäbchen finden Sie hinten links gleich bei den Menopausen. Und unten gibt’s die Bückware - je tiefer, desto billiger. Zwischen Ingwer-Joghurt und Heiligensammelbildchen finden Sie auch Sinnkrisen aller Art, zarte Liebesgeschichten, die schnelle Nummer zwischendurch und sogar den passenden Tod. Greifen Sie zu, alles muss raus! „Kaufen und verkauft werden“ lautet die Devise des Kassierers in dem satirischen Schauspiel „Hysterikon“ von Ingrid Lausund, das bei der Premiere am Samstagabend im Stadttheater mit herzlichem Applaus aufgenommen wurde.
In der mit leichter Hand servierten Inszenierung von Meike Niemeyer erwartet die Zuschauer ein Abend aus Komik, Witz, philosophischem Tiefgang und Revue. Wie der Conférencier einer glitzernden Revue thront Rainer Hustedt als Filialleiter von seinem erhöhten Platz an der Kasse über dem ganzen Geschehen. Er sieht ziemlich amerikanisch aus, trägt einen rosa Kaufmannskittel und ein rosa Käppi (Kostüme: Bernhard Niechotz) und ist ein clownesker, gleichwohl allzeit überlegener Spielleiter in diesem Supermarkt des Lebens. Ihm assistieren die beiden schönen blonden Revue-, pardon: Supermarktgirls Svea Bein und Theresa Gehring, die Purzelbäume schlagen und den Kunden tänzelnd Getränke auf dem Silbertablett anbieten.
Die kurzweilige, anderthalbstündige Aufführung vergeht wie im Flug, weil die Regisseurin über ein quicklebendiges, wandlungsfähiges Ensemble verfügt, das der Grundidee stets neue Facetten hinzuzufügen versteht. Schlaglichtartig wechseln die Szenen, die alle das große Thema der Autorin umkreisen und anklingen lassen: dass nämlich alles im Leben seinen Preis hat und dass für alles im Leben bezahlt werden muss. So dient der Laden nicht der Befriedigung materieller, sondern seelischer Bedürfnisse.
Menschen, die von Beziehungsängsten, Depressionen und Selbstzweifeln geplagt sind, finden sich vor den hohen, grauen Regalen mit den einheitlich lila verpackten Waren ein: Es sind allesamt Getriebene. Bühnenbildner Thomas Döll schuf für ihre Begegnungen einen stilisierten Einkaufsmarkt, der durch wechselndes Licht (Manfred Wende) jeweils in eine andere Atmosphäre getaucht ist. In der Mitte, der Schaltzentrale der Macht, steht die Kasse mit einem echten Laufband für Waren. Darüber hängt ein großer Bildschirm, auf dem zu lesen ist, wie viele Punkte dem jeweiligen Kunden für seinen Einkauf von seiner persönlichen Life-Card abgebucht werden.
In liebevoller Detailarbeit zeigen die Darsteller die verschiedenen, zum Teil skurrilen Figuren, die zur Erheiterung des Publikums in kuriose Zwischenfälle verwickelt sind. Schmunzeln und Gelächter begleiteten denn auch am Premierenabend das allzumenschliche Treiben. Frerk Brockmeyer ist zunächst ganz der ungläubige Kunde, der nicht verstehen kann, warum eine Kaffeekanne aus einem transformierten Ferrari 990 000 Euro kosten soll, und setzt schließlich in der Rolle eines achtjährigen Jungen, der 98 Heiligenbildchen kauft, ein Glanzlicht der Aufführung. Was er hier ohne Übertreibung glaubhaft in einem kindlichen Ton vorträgt, ist sehr treffend. Eine gelungene Charakterstudie steuert auch Pascal Thomas als junger Mann bei, den schlechte Nachrichten in der Zeitung sofort aus der Fassung bringen.
Mit darstellerischer Souveränität verkörpert Petra Soltau sehr unterschiedliche Typen: Da ist die graue Fair-Trade-Maus mit Jutetasche, die jedem mit ihrem Gutmenschengetue auf die Nerven geht, und da ist die aufgetakelte Schickimicki-Mittfünfzigerin, die genau weiß, wie sie ihren jüngeren Liebhaber bei der Stange hält. Bei der jungen Schauspielerin Theresa Henning, die ein schwarzes Mädchen auf der Suche nach Liebe und Geborgenheit spielt („Ich gehe nicht zur Antifa, ich bin selbst eine wandelnde Lichterkette“), wirkt manches noch unfertig und ein wenig überhastet. Wenn sie nachher allerdings im glitzernden Tina-Turner-Fummel frech losberlinert, ist sie der Publikumsliebling.
Für ein weiteres Glanzlicht sorgt Ana Kerezovic als Frigitte, der Liebesdienerin in der Tiefkühltruhe. Wie sie im Bunnykostüm ihre männliche Kundschaft umgarnt, biegsam ihren schönen Körper zur Schau stellt und mit französisch-erotischem Akzent parliert, das hat Klasse. Harald Pfeiffer, der als alter Mann die ganze Zeit in einem Einkaufswagen zubringt, hat am Ende seinen großen Auftritt. Er, der Speditionskaufmann, der eigentlich ein Seemann sein möchte und meint, im Leben alles falsch gemacht zu haben, blickt dem Tod entgegen: eine intensive Darstellung. Thomas Schmitz-Albohn, 23. April 2012, Gießener Anzeiger