Schreie vertreiben Langeweile nicht - Gießener Anzeiger

23.04.2012

Christian Fries inszeniert Kafkas „Amerika“, doch es bleibt unklar, worum es geht
Mit sämtlichen inszenatorischen Mitteln hat Christian Fries seine Bühnenfassung von Kafkas Roman „Amerika“ im Theaterstudio im Löbershof vorgestellt. Das bestens aufgelegte Ensemble agierte mit bemerkenswerter Präzision und großem Einfühlungsvermögen und erhielt bei der ausverkauften Premiere am Samstag heftigen Beifall.
Es war der übliche solidarische Premierenbeifall, schließlich waren jede Menge Kollegen vom Theater anwesend. Doch diese Bühnenfassung von Fries ist alles andere als gelungen. Man bekommt schon mit, dass die Hauptfigur, Karl Rossmann, wegen einer Liebschaft mit einem Dienstmädchen von seiner armen Familie nach Amerika emigriert wird und dort erstmal verwirrt um sich blickt. Fries lässt die Figuren mehr aufeinanderprallen als miteinander agieren, durchaus kafkaesk. Auch die Kostümwechsel auf offener Bühne (ein steriler Diner namens „Liberty’s“, aha, von Miriam Eiselé) gehen in Ordnung, sie beschleunigen den Ablauf.
Das präzise und nuanciert funktionierende Ensemble setzt offenkundig ein Emotions- und Darstellungsrepertoire genau um, was die Schwächen der Sache umso deutlicher zeigt.
Schon nach kurzer Zeit legte sich bleiern die Langeweile über den Saal, da man den Überschneidungen der Handlungsebenen nicht mehr folgen kann und zudem noch von unerwarteten Schreien aufgeschreckt wird, in die Fries die Darsteller ausbrechen lässt. Ok, denkt man, das sind intensive Momente, doch ihre Ursache bleibt unklar. Fries wiederholt das häufig, es bleibt nicht nachvollziehbar und nutzt sich dadurch ab.
Lächerlich gemacht
Inzwischen rumpelt die Geschichte voran, wird dann öfters von durchaus fetziger Popmusik unterbrochen, dann mal wieder durch (von Philipp Karau und Stephanie Kayss versiert gemachte) Videos der Darsteller, die auf der Fläche hinter der Sitzbank ablaufen. Aha, noch ‘ne Ebene, versteht man. Dann wieder Schreie. Während man gerade noch aufnimmt, dass der arme Karl langsam in Amerika anwächst, tritt Milan Pesl plötzlich mit einer schief sitzenden Perücke auf und wirkt völlig lächerlich. Da wird also die Spielfigur bloßgestellt, schön. Später tragen auch Goldbach und Sommer eine Perücke, und Deller trägt auf einmal Sommer auf der Sitzbank rum. Zwischendurch bricht Goldbach, jetzt als Straßengauner, in einen Rap aus (aktueller Jugendbezug, ja doch), man zitiert unverhofft Texte aus Deep Purples „Smoke on the water“, einmal wird auch noch Sex angedeutet, und so geht das immer weiter, eindreiviertel Stunden lang.
Mirjam Sommer, Corbinian Deller, Lukas Goldbach und Milan Pesl machen ihre Sache sehr gut. Abgesehen von einer vom Ensemble bemerkenswert gut gesummten Nummer zu Beginn macht Sommer später noch mit dem Anfang einer glänzend gesungenen Version von „Fever“ Appetit auf mehr.
Unterdessen verliert man den Bezug zu Text und Stück. Durchaus kritische und nicht zuletzt witzige Textfetzen segeln ungenutzt durch die Dialoge, und es baut sich kein spürbarer Zusammenhang auf. Durch die regelmäßigen Schreie aufgeschreckt, stellt man bloß fest, dass die Inszenierung außer einem vage gewerkschaftlichen keinen Standpunkt gewinnt. Viel schlimmer, sie bringt den Zuschauer aus dem Kontakt mit der Sache und liefert kein brauchbares Gefühl. Worum es bei Kafka im Wesentlichen geht, bleibt unklar. Immer klarer wird dagegen der Eindruck, dass Fries hier Unterhaltungswert schaffen, durch Abwechslung jede bei Kafka schon denkbare Sprödheit umschiffen will - er traut seiner Inszenierung nicht. Und er hat recht. Heiner Schultz, 23. April 2012, Gießener Anzeiger