Spiel mit dem Schein und Sein - Oberhessische Presse Marburg

12.10.2011

Spiel mit dem Schein und Sein

Schauspiel „Prinz von Homburg“ am Stadttheater Gießen spielt mit der richtigen Wahrnehmung

Traum oder Wirklichkeit. Nichts ist so, wie es scheint – das erlebten die Zuschauer am Samstagabend bei der Premiere „Der Prinz von Homburg“ von Heinrich von Kleist am Gießener Stadttheater.

Vor 200 Jahren beging er am 21. November Selbstmord: Heinrich von Kleist. Am 4. Mai startete in Deutschland das Kleist-Jahr, um an einen der wichtigsten Klassiker der deutschen Literatur zu erinnern. Das Stadttheater Gießen erinnert mit der Aufführung des Schauspiels „Prinz von Homburg“, das erst 1821 und damit zehn Jahre nach seinem Tod in Wien uraufgeführt wurde, an das lange verkannte Genie.

Es herrscht Krieg in Brandenburg, und der Plan für die entscheidende Schlacht gegen die Schweden ist bis ins Detail ausgearbeitet. Doch der General der Reiterei, Prinz Friedrich Arthur von Homburg (Lukas Goldbach), Ziehsohn des Kurfürsten Friedrich (Roman Kurtz), ist bei der Ausgabe der Parole nicht bei der Sache.
Er ist noch in Gedanken an kommenden Ruhm und an die Frau, von der er unmittelbar zuvor im Garten des Schlosses Fehrbellin schlafwandelnd geträumt hat. Oder war es doch real? Homburg missachtet in der Schlacht seinen Befehl und erringt den Sieg. Der Kurfürst, erbost über den Eigensinn, lässt den Helden zu Tode verurteilen.
Erst die Todesnähe lässt den Träumer Homburg den Ernst seiner Situation erkennen und um sein Leben betteln. Tatsächlich lässt der Kurfürst einen Ausweg für den Prinzen offen. Doch bei Homburg setzt ein Sinneswandel ein: Er will jetzt durch seinen Freitod das Gesetz, die Mutter der kurfürstlichen Herrschaft, verherrlichen. Selbstmordgedanken, Todesnähe und Todesfurcht waren ständige Begleiter des zu Lebzeiten verkannten Kleist – bis zu seinem Selbstmord 1811.
Im Angesicht des Todes kann auch sein Held Wahrheit und Schein nicht unterscheiden. War alles am Ende doch nur ein böser Traum? Das Scheitern an der Realität, die vergebliche Suche des Verstandes nach der Wahrheit ließ auch Kleist zusehends verzweifeln. Dies schlägt sich in seinen Werken nieder.
Ausstatter Lukas Noll entwarf eine an Stahlseilen hängende Bühne, die in ihren einzelnen Elementen beweglich ist. Der schwankende Boden ist für Regisseur Wolfram Starczewski auch Symbol für den Wahn, das Irreal, in dem der Prinz gefangen ist.
 Der Zuschauer wird von dem spielfreudigen Ensemble von Beginn an in ein ausdrucksstarkes, spannendes Verwirrspiel hineingezogen, bei dem auch die Nebencharaktere ein undurchsichtiges Spiel spielen. Dazu trägt auch die Funktion von Homburgs engem Freund Oberst Truchß bei, der scheinbar auch als Alter Ego des Prinzen fungiert.  Bis zum Ende bleibt offen, ob es sich um einen Traum handelt.

Alle Darsteller tragen die gleichen schlichten Uniformen – ein Verweis auf die militärische Gesellschaft des Jahres 1665, in dem das Stück spielt, und zugleich der Gegenwart. Starczewski zeigt eine Offiziersfabrik,  von der der Kurfürst an vorderster Stelle Gehorsam fordert – und der ihm am Ende verweigert wird.
Musikalisch unterlegt ist die Inszenierung mit modernen mechanischen Klängen von Hendrik Lorenzen, die Assoziationen an Fabriklärm wecken.
Starczewski macht aus Kleists Spätwerk ein modernes zweistündiges Stück, das gegen Ende hin schneller auf den Punkt kommen könnte, aber den Zuschauer aufgeklärt in die Nacht entlässt.

Timo Scheibe, 21.09.2011, Oberhessische Presse Marburg