Stadttheater zeigt »La Bohème« in kühlen Bildern - Gießener Allgemeine Zeitung

05.09.2011

Unterkühltes Bühnenbild kontra Herzenswärme: Als erste Oper der neuen Spielzeit zeigt das Stadttheater Puccinis »La Bohème«. Die Inszenierung von Helmut Polixa erhält viel Applaus und zeigt starke Sänger.

Eigentlich zählt die Liebesgeschichte in »La Bohème« zu den romantischen: Es ist Weihnachten im Paris des Jahres 1830. Die vier kreativen Nichtsnutze Rodolfo, Marcello, Schaunard und Colline leben in ihrer Mansarde in den Tag hinein. Marcello ist in die kokette Musetta verknallt, Rodolfo verliebt sich in die seidig-schöne, aber kränkelnde Mimi. Der Hausherr läuft vergeblich seiner Miete hinterher – die Künstler sind knapp bei Kasse. Im Café Momus muss folglich der wohlhabende Staatsrat, mit dem Musetta angebandelt hat, die Rechnung für die Bohemiens bezahlen. Als Mimi, das zarteste und liebreizendste Geschöpf, das man sich denken kann, schließlich an Schwindsucht stirbt, schreit der verzweifelte Rodolfo ihren Namen in die Nacht hinaus: »Mimi!!!« Schluss und schluchz.

So einfach macht es sich Regisseur Helmut Polixa nicht. In seiner zwölften Inszenierung für das Stadttheater wollte er der handlungsarmen Puccini-Oper nach dem Libretto von Giuseppe Giacosa und Luigi Illica Tiefgang verleihen und sie zeitlos inszenieren, auch, indem er sein Augenmerk auf das Innenleben der Protagonisten richtet. Doch seine »La Bohème«, die am Samstag im Stadttheater Premiere feierte, zeigt die Figuren im bekannten Muster. Polixas Personenführung konzentriert sich auf den zweiten und den vierten Akt – ansonsten wird viel Herumgestanden und -gesessen.

Das minimalistische Bühnenbild von Bastian Trieb gibt sich schwarz und grau und fordert Geduld, weil die nicht gerade große Stadttheaterbühne im ersten Akt auf ein Mindestmaß reduziert wird. Die Mansarde hat Polixa als metallene Podestkonstruktion anlegen lassen, die auf zwei mal zwei Metern einer Miniatur-Industriebrache gleicht – Endzeit mal wieder, ja. Hier tummeln sich die vier Helden dicht an dicht, geschlafen wird wahrscheinlich übereinander. Taucht Hausherr Benoit auf (routiniert: Siegfried Lenkl), geht’s noch enger zu. Wenn Mimi und Rodolfo sich einander nähern, ziehen im Hintergrund auf einer schmalen, bühnenbreiten Leinwand Schwäne als Symbol von Eros und Liebe vorüber, so als ob nicht jeder auch ohne Federvieh gewusst hätte, was gerade läuft. Die Schwäne werden in zwei weiteren Akten bemüht – als die Liebe sich dem tragischen Ende nähert, geraten die Tiere ins Trudeln…

Bild zwei aktiviert die Drehbühne, auf der die Menschen im grau-schwarzen Einheitslook monoton umhermarschieren. Im Café Momus hocken die Protagonisten an der Bühnenrampe auf dem Boden und lassen die Beine in den Orchestergraben baumeln. Weil Weihnachten ist, leuchten Glühbirnen und zwei zusammengeschnürte Tannenbäume werden in loriotmanier hin- und hergetragen. Händler Par-
pignol (bunt kostümiert: Herbert Wüscher) zieht vom Schnürboden aus auf einer Schaukel durchs Bild und lässt Seifenblasen auf die Menge blubbern. Staatsrat Alcindor (solide: Giorgi Darbaidze) kriegt die Rechnung serviert.

Akt drei prägt eine schmale Brücke. Das Gasthaus, in dem Marcello arbeitet, liegt augenscheinlich unter Tage, da eine Treppe in den Bühnenboden hinabführt. Bild vier kehrt zum Ausgangspunkt zurück. Die Mansarde scheint am menschlichen Schicksal teilzuhaben: Sie wirkt irgendwie »geknickt«. Die unterkühlte Optik lässt dennoch wenig Wärme zu.

Die Protagonisten sind in Allerweltsklamotten gehüllt, die Tina Hempel entworfen hat. Damit unterscheiden sie sich zwar vom uniformierten Chor (perfekt einstudiert von Jan Hoffmann), sehen aber aus wie Passanten in der Fußgängerzone. In der Pause wurde von Theaterabonnenten prompt der Wunsch nach einer »schönen Ausstattungsoper« laut.

Das Orchester unter der Leitung von Generalmusikdirektor Herbert Gietzen formte Puccinis sinnlich-romantischen Duktus mit Chuzpe. Der dritte Akt mit seiner Klanghomogenität war ein Erlebnis. Gietzen tat gut daran, in den Fortissimopassagen dick aufzutragen, weil er Sänger auf der Bühne wusste, die mithalten konnten.

Allen voran Gaststar Abdellah Lasri als Rodolfo. Der Tenor verfügt über Volumen und Modulationskönnen, die aus seiner geschmeidigen Stimme ein Artikulationsfaszinosum machen; ein Traum die Arie »Che gelida manina« (Wie eiskalt ist dies Händchen). Tomi Wendt durfte als Schaunard sein schauspielerisches und komödiantisches Talent ausspielen. Stimmlich hielt er in der Baritonpartie sehr gut mit und machte deutlich, dass die Mittellage und nicht der brummbärige Bass sein Terrain ist. Die Tiefen lotete Stephan Bootz als Colline in seiner Arie »Vecchia zimarra, senti« (Höre, du alter Mantel) sonor aus. Auf der Höhe präsentierte sich Adrian Gans, die neue Baritongröße in Gießen. Gans bot Tenor Lasri Paroli und rückte sich als Marcello ins rechte Licht. Eine kecke Musetta war Diana Chavarro, die für die erkrankte Odilia Vandercruysse einsprang. Mit süffisantem Sopran und quirligem Spiel gab sie das perfekte Luder. Maria Chulkova fehlt es noch an Ausstrahlung, um eine sensible Mimi zu zeichnen. Sie tremolierte sich durch »Si, mi chiamano Mimi« (Man nennt mich nur Mimi) und hustete hier und da theatralisch – vielleicht gehörte das zu Polixas Charakterstudie.

Die Taschentücher im Publikum blieben am Ende trocken. Gleichwohl gab es lang anhaltenden Applaus, rhythmisches Klatschen und Bravorufe für die erste Operninszenierung der neuen Spielzeit. 05.09.2011, Manfred Merz, Gießener Allgemeine Zeitung