Tanzart-Festival mit sehenswerten und anregenden Beiträgen im TiL - Gießener Anzeiger

21.09.2011

Eine fulminante Eröffnung des Festivals „Tanzart ostwest 2011“ ging am Donnerstag über die Bühne des Theaterstudios im Löbershof (TiL). Auftakt war die Premiere von Massimo Gerardis Gießener Produktion „Puppentänze“, einer hochinteressanten und exzellent inszenierten Geschichte über mechanische Menschen. Anschließend lief der erste Teil des Festivals, „TiL 1“, mit vier attraktiven und anregenden Stücken, zumeist von Gästen.

Natürlich war das Theaterstudio ausverkauft, schließlich bekommt man Tanz in solcher Aktualität und Dichte selten zu sehen. Einen starken Mix der Sichtweisen und Assoziationsketten brachte Massimo Gerardi mit der Tanzcompagnie (Ekaterine Giorgadze, Antonia Heß, Nina Plantefêve-Castryck, Vanda Stefanescu, Hua-Bao Chien, Keith Chin) in Gang. Die Anlehnung an E.T.A. Hoffmanns „Sandmann“ beginnt mit vier in Plastik verpackten weiblichen Figuren, die ein Mann auspackt, während ein zweiter im Hintergrund die Dinge dokumentiert. Die fleischfarben verpackten Tänzerinnen sehen Schaufensterpuppen sehr ähnlich, und Hua-Bao Chien geht sogleich an ihr Training. Es ist eine Mischung aus Imitation und Selbstlernen, denn diese Puppen sind zweifelsohne intelligent.
Michele Lorenzinis Bühnenbild unterstützt wirksam die verschiedenen Phasen der Menschwerdung, während ein moderner Musik- und Geräuschmix als Soundtrack dient. Attraktiv, wie sich die Puppen immer mehr vermenschlichen, in Beziehung zu den zwei Männern treten, zwischendurch zu einer Gruppe von Zombiegrazien mutieren und später dann zu durchgedrehten Batteriehasen, während sie zum Walzer rasen. Sehr ausdrucksvoll, sehr attraktiv und vor allem höchst anregend, das Ganze, und wie gewohnt vorzüglich umgesetzt. Riesenbeifall.
„A closer look“ von Ekaterine Giorgadze, getanzt von ihr und Meindert Peters, eröffnet die zweite Abteilung, in der ein Paar Macht und Herrschaft auslebt, wobei Giorgadze und Peters eine anrührende Expressivität verströmen und den Betrachter tatsächlich ins Innenleben dieser zwei Menschen schauen lassen; sehr schön.
Nina Monteiro setzt in „Traces“ vom Ballett Nordhausen ebenso heiter wie ausdrucksvoll und verbindlich Julia Ebnothers Choreographie um, eine lockere Assoziationskette mit nicht abgenutzten tänzerischen Elementen. Ganz kurz, doch wesentlich.
Umwerfend komisch ist „Mate“, das sich Meindert Peters einfallen ließ. Mit spürbarer Hingabe, aber präzise getanzt von Morgan de Toeuf und Sven Krautwurst, wird ein tierisches Balzritual präsentiert, das in seiner stimmigen Realisierung nichts zu wünschen übrig lässt. Glanzpunkte sind die Kommentare Sir Richard Attenboroughs, der nach einer besonders absurden Sequenz des Männchens etwa „Amazing“ sagt. Köstlich; ein Höhepunkt.
„Sunday morning - work in progress” von der israelischen Hagit Yakira Company beschließt den Abend. Abwechslungsreich und glaubwürdig lassen Takeshi Matsumoto, Orley Quick, Cornelis Joubert und Choreografin Hagit Yakira auch gesprochene Kindheitserinnerungen und dramatische Erfahrungen von Angst, Wut und Chaos frei, erleben aber auch Nähe und Zuneigung. Sehr ausdrucksvoll und präzise, aber auch optisch attraktiv. Alle Gruppen erhalten jeweils den verdienten sehr heftigen Beifall für ihre Arbeit.
Heiner Schultz, 11. Juni 2011, Gießener Anzeiger