Theater tanzt den Galilei - Wetzlarer Neue Zeitung

13.10.2011

Theater tanzt den Galilei

Szenen in Gießen bedrückend wie ausdrucksstark

Die Bilder sind ausdrucksstark, farbig, beglückend und beängstigend. Es geht um nicht Geringeres als ums Ganze, wie es oft so salopp heißt. In diesem Fall ist nichts Geringeres als das Universum gemeint und der Forscherdrang der Menschen. "Galileo meets Kopernikus" heißt das neue Tanzstück von Tarek Assam am Stadttheater Gießen.

Mit Leidenschaft präsentieren diese Inszenierung die 16 Tänzerinnen und Tänzer, von denen viele neu zur Tanzcompagnie Gießen gekommen sind, und die dennoch schon zusammengewachsen sind.

"Und sie dreht sich doch": Das berühmte Zitat von Galileo Galilei, das der Wissenschaftler trotz drohender Inquisition geäußert haben soll - in Wirklichkeit aber wohl nie gesagt hat, könnte als Motto über dem zweistündigen Tanzstück stehen. Die eindrucksvollen Kostüme und Konstellationen hat der Gießener Bühnenbildner Lukas Noll entwickelt.

Zwei Welten stehen sich dabei diametral gegenüber: die mittelalterliche Welt aus Glauben und Aberglauben, Höllenfeuer und Ewigkeit und die moderne wissenschaftliche Welt.

Mit einem kurzen Blick in die Moderne beginnt das Tanztheater: Die ersten Menschen betreten den Mond. Sie schweben und mimen Schwerelosigkeit. Die aber gibt es auf Erden nicht. Der Astronom, ob es nun Kopernikus oder Galileo ist, kriecht erdbehaftet unter jungfräulichem Laken dahin, bis er zu dramatischen Klängen des zeitgenössischen neuseeländischen Komponisten John Psathas endlich ins Freie tritt.

Konflikt um Erkenntnis

Hervorragend in der Rolle bewegt sich der Tänzer Alfonso Hierro-Delgado. Ihn treibt eine Erkenntnis und so heißt auch diese Szene, die zweite von insgesamt 13, "Das Erwachen des Astronomen". Ebenso selbstbewusst und ausdrucksstark tanzt Hierro-Delgado in der Auseinandersetzung mit dem Papst (Sven Krautwurst).

Das zweite einprägsame Bild folgt: Rotes Licht, dunkelrote Kostüme - die Welt des Klerus wird in allen Facetten abgebildet und die ist nicht immer so moralisch, wie sie gern nach außen erscheinen möchte. Die Tänzer bewegen sich mit fast traumwandlerischer Sicherheit durch den Raum. Als bewegungsreiches Tanztheater entwerfen sie ein Sittengemälde des Mittelalters zu Klängen des Komponisten Giovanni Gabrieli, das von den Rängen Johannes Osswald und Nobuo Tsjui (Trompete) sowie Kurt Förster und Joachim Osswald (Posaune) vom Philharmonischen Orchester vortragen.

Sehr gelungen agiert dabei Sven Krautwurst als Papst, der autoritär auftritt und dennoch in einer eigentümlichen Geschmeidigkeit den Kontakt zum Wissenschaftler und zu seinen Gläubigen hält.

Doch der Konflikt zwischen den beiden Männern auf der Tanzbühne eskaliert, als es darum geht, die Sternbilder am Himmel jeweils aus der eigenen Sicht zu erklären.

Wie hinlänglich bekannt ist: Der Papst beharrt schließlich auf seinem Weltbild, die Kirche droht dem angeblichen Ketzer Galileo mit Inquisition. Vor einem riesigen Gemälde nach Hieronymus Bosch ist das bei der Aufführung in Gießen mit Gänsehaut nachzuempfinden. Hektische, verzerrte Bewegungen spiegeln die Stimmung zu manchmal grellen Tönen der polyrhythmischen Kompositionen von John Psathas wider. Galilei kämpft mit sich und muss doch widerrufen, wenn er nicht auf dem Scheiterhaufen enden will.

Für den Choreografen Assam gehört der Wissenschaftler dennoch zu den "Mutigen", denen er sein Stück gewidmet hat. Das Gleiche gilt auch für Kopernikus, der bereits vor Galileo, die Entdeckung machte, dass sich die Erde und die anderen Satelliten um die Sonne drehen. In Assams Inszenierung verschmilzt er mit Galilei zu einer Person und in ihm vereinen sich all jene Wissenschaftler, die zur Entdeckung des Weltalls beitrugen.

Schließlich tragen sie den Sieg davon. Das heliozentrische Weltbild setzt sich durch und damit die Erkenntnis, dass die Erde nicht der Mittelpunkt der Welt ist. Mit Hilfe ausgeklügelter Bühnentechnik rücken auch die Tänzer die Erde aus dem Mittelpunkt und weisen ihr den Platz zurecht.

"Galileo meets Kopernikus" ist anspruchsvolles Tanztheater mit spannungsgeladener Musik. Bei all dem macht es Tarek Assam dem Publikum jedoch nicht leicht, die Sprache der unterschiedlichen Protagonisten, Epochen und Stimmungen zu verstehen. Das mag der Preis des frei assoziierten Tanztheaters sein, das sich im Gegensatz zu einem Stück wie "Sommernachtstraum" nicht an einer festen Handlung orientiert.

So war Offenheit von den Zuschauern gefragt. Der Großteil des Publikums jedoch war begeistert. Minutenlanger lautstarker Applaus belohnte die Akteure für ihre Arbeit.
Ulla Hahn-Grimm, 11.10.2011, WNZ