Vivat hoch, Prinz Karneval, vivat hoch! - Gießener Anzeiger

30.01.2012

Vivat hoch, Prinz Karneval, vivat hoch!

Regisseur Roman Hovenbitzer nimmt Flotow-Oper „Alessandro Stradella“ zum Anlass für opulentes Bühnenspektakel

Ene, mene, miste, es rappelt in der Kiste! In der fünften Jahreszeit rappelt es im Gießener Stadttheater ganz schön in der Kiste. Gastregisseur Roman Hovenbitzer und sein Inszenierungsteam nehmen Friedrich von Flotows romantisch-komische Oper „Alessandro Stradella“ zum Anlass für ein grellbuntes Spektakel, für eine opulente Show mit geradezu barocken Ausmaßen, bei der die Theaterleute ihrer reich blühenden Fantasie freien Lauf lassen. Das quietschbunte, ausgelassene Treiben gleicht einem Schaulaufen fantasievoller Kostüme und Masken. In der zweistündigen Aufführung, in der immer etwas passiert und stets ein neuer Einfall zum Vorschein kommt, sind die Gießener Bühnentechniker extrem gefordert. So demonstriert dieser „Alessandro Stradella“ nicht nur souverän, zu was Theatertechnik fähig ist, sondern spiegelt auch das eigene Metier liebevoll und ironisch wider.
Vom karnevalistischen Frohsinn der Inszenierung ließ sich das Premierenpublikum am Samstagabend im voll besetzten Haus gerne anstecken und honorierte die vielen zündenden Ideen mit lebhaftem Applaus. Um was es in der 170 Jahre alten Oper geht, ist dabei gar nicht so wichtig. Erzählt wird die Geschichte des Sängers und Schwerenöters Alessandro Stradella, dessen schöner Gesang die Menschen - vor allem die Frauen - dahinschmelzen lässt. Selbst die gedungenen Mörder seines eifersüchtigen Widersachers Bassi fallen beim Schmelz seiner Tenorstimme auf die Knie. „Nicht umsonst heißt das Werk ,Romantische Oper‘, was anscheinend jede Naivität entschuldigte, wenn nur die Musik schön genug war“, liest man dazu in einem Opernlexikon.
Italienisches Kolorit
Als „schön genug“ erweist sich die Musik in den Händen des Hausdirigenten Jan Hoffmann allemal. Hoffmann, der nicht nur das Philharmonische Orchester hellwach und inspirierend durch eine abwechslungsreiche Partitur führt, sondern auch wieder mit dem Chor und Extrachor vortreffliche Arbeit geleistet hat, zeigt am Dirigentenpult, dass es von musikalischer Seite durchaus ein Gewinn war, diese vergessene Flotow-Oper wieder aus der Schublade zu ziehen. Deutsche Romantik, italienisches Kolorit und französische Spieloper durchdringen einander, und hier und da bleibt eine schöne Melodie auch in den Ohren hängen.
Roman Hovenbitzer orientiert sich sehr stark an der Partitur und choreographiert die Bewegungsabläufe streng nach der Musik. Das leichte, muntere Treiben täuscht nicht darüber hinweg, dass in jeder Szene sehr viel Kleinarbeit und Detailgenauigkeit stecken. Da wurde bis aufs i-Tüpfelchen gefeilt!
Mummenschanz
Die Bühne von Hermann Feuchter und die Kostüme von Bernhard Niechotz, unterstützt von Manfred Wende (Licht), führen uns nach Venedig, wo der historische Alessandro Stradella lebte. Überall stehen Kisten mit der Aufschrift „Vorsicht Kunst!“ herum. In einer solchen Kiste genießen Stradella (Corey Bix) und die reizende Leonore (Anna Güttner) schon während der beschwingten Ouvertüre zum ersten Mal die sexuellen Freuden (es werden noch weitere Akte folgen), und auf einer zur Gondel umfunktionierten Kiste gleitet Stradella zu Beginn durch die Wasserstraßen der Lagunenstadt, wo der Karneval wogt. „Vivat hoch, Prinz Karneval, vivat hoch!“, singt der Chor zu einem farbenprächtigen Mummenschanz. Durch das Gewusel tanzen wacker vier junge Frauen der Showtanzgruppe „Soul System“ Hungen (Choreographie: Tarek Assam) in ihren goldenen Kleidchen. Später wird man sie in fantasievollen Kostümen als Blumen, Schmetterlinge, Obstfrüchte und Engel wiedersehen.
Der Landsitz Stradellas sieht aus wie die prunkvollen Gemächer heutiger Popstars. Sitzend auf einem Bett mit einem großen roten Herz als Kopfkissen spielt der Künstler Cello; an den Wänden großformatige erotische Malereien, Stradella-Plakate und etliche Goldene Schallplatten. Bald darauf wird der Hausherr das Instrument zur Seite stellen und auf seiner geliebten Leonore mit dem Cellobogen ein erotisches Spiel beginnen. Bei der Abendmahl-Parodie und dem abschließenden Madonnenfest greift die Regie noch einmal so richtig tief in die Kitsch-Kiste und holt alles hervor, was bunt, glitzernd und grell ist. Da schweben Engel und Harfen herein, werden Weihrauchfässchen geschwenkt, und ein mit zahlreichen Lichtern geschmückter Fahrstuhl fährt Stradella und die als Muttergottes verkleidete Leonore auf und nieder.
Für das humoristische Element im Stück sind vorrangig die beiden Mörder zuständig. Mit Wojtek Halicki-Alcina und dem für den erkrankten Tomi Wendt kurzfristig eingesprungenen Matthias Ludwig liegt dieser Part in den Händen von zwei Erzkomödianten, die gesanglich und darstellerisch jederzeit auf der Höhe sind. Wie sie aus ihren Geigenkästen die Gewehre hervorkramen, wie sie nach langem Wiedersehen zuerst einmal Familienfotos austauschen, wie sie beschließen, selbst Sänger zu werden - das alles ist sehr spaßig. Stephan Bootz gibt den Bösewicht im Hausmantel mit tiefschwarzem Bass.
Bezaubernder Gesang
Mit ihrem bezaubernden Gesang stellt Anna Gütter (Sopran) als Leonore alle in den Schatten. Sie ist keck, quicklebendig, voller Liebreiz und Anmut. Ihr leuchtender Sopran lässt immer wieder aufhorchen.
Das kann man von Corey Bix in der Titelpartie leider nicht sagen. Der junge Amerikaner sieht aus wie Mozart aus Milos Formans berühmtem Film - nur ein wenig dicker. Sein Tenor hat zwar keine Mühe, sich in die Höhe zu schwingen, doch an Stimmkraft fehlt es deutlich. Den betörenden, strahlenden Glanz einer Stimme, der die Herzen der Zuhörer in Bann schlägt und alles vergessen lässt, bleibt er dem Gießener Publikum jedenfalls schuldig.
Thomas Schmitz-Albohn, 30.01.2012, Gießener Anzeiger