„Wilhelm Tell“ in konzertanter Aufführung - Gießener Anzeiger

05.06.2012

Scheidender Generalmusikdirektor Herbert Gietzen dirigiert „Wilhelm Tell“ in konzertanter Aufführung


Der Befreiungskampf des Schweizer Volkes ist am Samstagabend im Gießener Stadttheater in Jubel- und Beifallsstürmen untergegangen. In der letzten Premiere des Musiktheaters in dieser Spielzeit nahm der scheidende Generalmusikdirektor Herbert Gietzen mit einer opulenten Grand Opéra Abschied von der Opernbühne. Die von ihm geleitete konzertante Aufführung der Oper „Wilhelm Tell“ von Gioacchino Rossini wurde zu einem triumphalen Erfolg für alle Beteiligten dieser Riesenproduktion.
Über 70 Männer und Frauen in dem von Jan Hoffmann gut vorbereiteten Chor (mit Extrachor), über 50 Musiker im verstärkten Philharmonischen Orchester Gießen, dazu eine Riege erstklassiger Gesangssolisten - für Rossinis letzte Oper, die den Zuhörer in ihrer verschwenderischen Fülle fast erschlägt, sollte es an nichts fehlen. Die räumlichen und akustischen Dimensionen des Gießener Hauses waren ausgereizt bis an die Grenzen. Mehr ging wirklich nicht!
Gietzen hat die Oper, die in der einschlägigen Konzertliteratur wegen ihrer effektvollen Musik, virtuosen Gesangsakrobatik und üppigen Chöre, wegen ihres Lokalkolorits und der patriotisch-revolutionären Stoßkraft als Meisterwerk gerühmt wird, auf etwa drei Stunden Aufführungszeit behutsam zusammengestrichen. Obwohl Rossini „Guillaume Tell“ als große französische Oper komponierte, wird nicht französisch, sondern italienisch gesungen (mit deutschen Übertiteln). Dadurch büßt die Aufführung wenn nicht atmosphärische Substanz, zumindest aber französischen Esprit ein.
Wie so viele Male in den vergangenen drei Jahrzehnten zeigt sich bei Herbert Gietzen auch diesmal die Handschrift des erfahrenen Dirigenten, der sich die Partitur und ihre Eigenheiten ganz einverleibt hat und diese gewonnene Vertrautheit an seine Musiker weitergibt. Er schenkt den kleinsten Details Aufmerksamkeit, ohne den großen Zusammenhalt auch nur einen Augenblick aus den Augen zu verlieren. Schon in der bekannten Ouvertüre, die zu einem der meistgespielten Konzertstücke aller Zeiten wurde, ist zu erkennen, dass er Rossinis überreich quellende Musik nicht in wildem Galopp ausbrechen lassen will. Er zieht die Zügel, so gut es eben geht, immer wieder an. Das Spiel der mehrfach geteilten Celli zu Beginn ist von schlichter Schönheit, und der anschließende Geschwindmarsch reißt natürlich mit - muss auch so sein. Frühlingsidylle, Gewittersturm, feierliches Pathos, all dies klingt im Verlauf der Aufführung an, in der etliche Instrumentalisten die Gelegenheit bekommen, sich als Solisten zeitweise in den Vordergrund zu spielen. Doch immer dann, wenn die Grand Opéra mit Masse und Macht ihr Recht einfordert, stößt die Wiedergabe an die durch den Theaterbau gesteckten Grenzen. Das zeigt sich besonders in den ausgiebigen Chorszenen. Der Chor nimmt in „Wilhelm Tell“ sowohl musikalisch als dramatisch eine zentrale Rolle ein, und vieles in der Oper dreht sich um prächtige Chorensembles, etwa im Finale des ersten Aktes oder am Schluss. Im Zusammenwirken mit dem Orchester und den Solisten wird im Chor aber zuweilen zu stark forciert. Textverständlichkeit und Klarheit der Intonation bleiben dann auf der Strecke und es ergibt sich ein verschwommenes Klangbild.
Am Premierenabend braucht die Grand Opéra eine längere Zeit, um auf Touren zu kommen. Eine Stunde lang will der Funke partout nicht überspringen, bis die aus Südkorea stammende Sopranistin Elisa Cho in der Rolle der Habsburger Prinzessin Mathilde endlich das Zepter übernimmt und prompt mit Beifallsrufen bedacht wird. In der lieblichen Romanze zu Beginn des zweiten Aktes und im anschließenden Duett mit Arnold beschert sie der Aufführung in einer glänzenden Darbietung voller Ausdruck einen ersten Höhepunkt. Ihr sauber und klar geführter Sopran verbreitet ein faszinierendes Leuchten, und ihr Gesang verrät sowohl Anmut als auch Gefühlstiefe. An ihrer Seite legt sich der Tenor Adrian Xehma, ein echter Ritter des hohen C, mächtig ins Zeug. Als Arnold Melchthal strahlt er tenoralen Schmelz aus und schwingt seine Stimme in dieser schwierigen, klippenreichen Tenorpartie in Höhen empor, die nur noch von den Schweizer Bergen übertroffen werden.
Mit seinem expressiven, manchmal auch etwas ungestümen Bariton lässt Adrian Gans als Tell wieder die Wände erzittern. Wenn er auf dem Rütli den Tag der Rache ankündigt, dann geht es einem durch Mark und Bein, ergreifend die Szene, in der er vor dem Apfelschuss Abschied von seinem Sohn Jemmy nimmt, den Odilia Vandercruysse engelsgleich singt.
Mit seinem tiefschwarzen Bass verleiht der Bassist Stephan Bootz dem durch und durch bösen Gessler glaubhaft Gestalt. Der rumänische Bassist Calin Valentin Cozma verkörpert den alten Melchthal in all seiner Würde und seinem Stolz, und Bariton Tomi Wendt schürt als Walter Fürst patriotisches Feuer. Der Argentinier Leonhardo Ferrando bringt als Fischer seinen lieblichen Tenor zur Geltung. Merit Ostermann ist Tells Frau Hedwig, und Sang-Kiu Han lässt als Gesslers Adjutant - bildlich gesprochen - immer wieder die Peitsche knallen.
Thomas Schmitz-Albohn, 04. Juni 2012, Gießener Anzeiger