»Buch.Bühne.Büchner«: Nackter Landbote im Stadttheater - Gießener Allgemeine Zeitung

10.06.2013

Uraufführung mit nackten Tatsachen: Regisseur Thomas Goritzki lässt im Stadttheater in seinem neuen Stück beim Rezitieren die Hüllen fallen.


Nun geht niemand ins Theater, um sich einen alternden Regisseur anzuschauen, der auf der Bühne seinen Leib entblößt. Wer am Samstag dennoch dem Drei-Sparten-Projekt »Buch.Bühne.Büchner« beiwohnte, kam nicht umhin, jeder Kleinigkeit des Thomas Goritzki gewahr zu werden.

Der als Regisseur und Autor in Personalunion fungierende Theatermacher ließ es sich nicht nehmen, bei seiner Annäherung an den Revoluzzer und Literaten in Bild neun die Bühne zu entern und, während er politisch aufwühlende Passagen aus dem »Hessischen Landboten« rezitierte, von einem aufmerksamkeitsheischenden Entblößungstrieb befallen, nach kurzer Stripattacke im Adamskostüm seiner Verzweiflung freien Lauf zu lassen – Goritzki als nackter Landbote.

Immerhin urinierte er nicht wie weiland Woyzeck gegen eine Wand respektive gegen den eisernen Vorhang. So viel Revolution muss es dann doch nicht sein in Gießen. Oder wie es in der Schlusssentenz des Lenz heißt: »Das Dasein war ihm eine notwendige Last« – nur dass Goritzki seinen Auftritt sichtlich genoss. Am Ende gab es wohlwollenden Applaus vom nicht ausverkauften Haus.

Die Uraufführung von »Buch.-Bühne.Büchner« im Stadttheater ist der Versuch, den Mythos Büchner in Bilder einzufangen. Auch seine Zeit als Student in Gießen, als er im Seltersweg 19 wohnte. Wie schon bei Dantes »Göttlicher Komödie« hat Goritzki dazu ein spartenübergreifendes Spektakel gezaubert mithilfe von Musik, Gesang, Schauspiel und Tanz.

Natürlich geht es im Büchner-Jahr um den Dichter. Intendantin Cathérine Miville bat Goritziki vor drei Jahren, dessen früh vollendetes Leben in Worte und Szenen zu fassen. Der Untertitel »Stationen einer Jagd« lässt aufhorchen.

Goritzki präsentiert das kurze Leben des Autors in zwölf Stationen, mit dem nötigen gerüttelt Maß an Wut und Fatalismus, an Energie und Frustration. Dazu lässt der Theatermacher jedoch nicht eine einzige Figur aus Büchners Werken auferstehen. Auch Bekannte und Weggefährten des Autors sucht der Zuschauer vergeblich. Die Bühne bevölkern – vom Chor einmal abgesehen – ausnahmslos Büchner-Alter-Egos. Das darf Goritzki vor dem Büchner-Festival hoch angerechnet werden, denn ab dem 22. Juni werden noch viele Leonces und Lenas, Woyzecks und Lenzens Gießen heimsuchen.

Mit im kreativen Kahn schipperte am Samstag Komponist Richard van Schoor durch den Büchner-Ozean. Der Südafrikaner steuerte die Partitur bei und Stand im Orchestergraben persönlich am Pult. Allein das ist schon ein Grund, sich die Aufführung zu gönnen: die spannungsreiche, weil höchst seltene Kombination, bei welcher der Autor sein eigenes Stück inszeniert und der Komponist die selbst geschriebene Partitur dirigiert.

In den Lebensstationen versucht Goritzki, dem Mysterium Büchner auf den Grund zu gehen. Er habe einen »phonetischen Dreisprung zwischen Literatur, Wirklichkeit und Wahrheit« konstruiert, betont der Autor, und van Schoor ergänzt: »Wir waren bestrebt, nicht in die potenzielle Falle zu tappen, Büchners Leben auf der Bühne darzustellen. Wir wollten lieber Emotionen vermitteln.«

Das mit den Emotionen hat funktioniert. Büchner ist im Stück ein Getriebener, ein Suchender, ein schmerzverzerrter Wutbürger, der um Worte ringt. Dennoch tappte das kreative Duo in die potenzielle Falle, Büchners Leben darzustellen. Von der Wiege bis zur Bahre reichen die zwölf Bilder.

Doch was soll uns die Geburt, also Station eins, explizit über den Autor verraten? Dass er mühsam zur Welt kam wie viele andere Kinder auch? Gleichwohl erwächst dieses Gebären aus einer Placentaplastikfolie heraus zu einem eindringlichen Moment.

Das gilt für fast alle Stationen, wenn man sie für sich betrachtet. Beispiele: Für Büchner »war Gott alles«. Goritzki lässt seine Akteure also das »Vater unser« vorwärts und rückwärts und dann noch einmal rückwärts mit einem lauten Amen – »nemA« – deklamieren. Und am Laternenpfahl werden nach französischem Vorbild die
Erhängten gezeigt. Ein einheitliches Ganzes entsteht aus all dem nicht.

Die Akteure haben Mühe mit der Materie. Natürlich wohnen Männlein wie Weiblein in des Revoluzzers Brust. Büchner (Vincenz Türpe) zuckt und zweifelt verwegen, Büchnerin (Anne-Elise Minetti) ergeht sich als fleischgewordene Buchstabensuppe mit entblößter linker Brust im Gestotter. Sängerbüchner Tomi Wendt intoniert wohlwollend wie Sängerbüchnerin Maria Chulkova skurrile Laute. Der Chor (Einstudierung: Jan Hoffmann), der den Namen Büchner im Morsealphabet vor sich hinmaunzen darf, hat Kraft. Das gilt auch für den Kinderchor, den Martin Gärtner instruiert hat. Rhythmisch stark sind die Szenen des Sprechchors des Schauspielensembles, wenn der Steckbrief Büchners in den ersten Stationen immer wieder wiederholt wird. Lorenz Oehler als das Kind Büchner ist ein Glücksgriff.
Ballettdirektor Tarek Assam zeichnet für die Choreografie verantwortlich. Sein Tanzensemble zeigt impulsive hedonistische Bewegungen und steuert die Dynamik bei. Das Vorhang-Bühnenbild mit bunten Büchner-Farbkleksen und die Kostüme (beides von Heiko Mönnich) transportieren die dargestellten Inhalte deutlich.

Und die Musik? Sie bleibt Rudiment. Obwohl van Schoor starke Momente gelingen. Der Beginn etwa: Fast 100 Takte im Fünfvierteltakt. Etwas Bernard-Herrmann-Feeling, kitzelnde Dissonanzen, die sich an ihren Grundton erinnern wollen, nichts Überladenes, aber alles in allem zu wenig Forderndes, Zwingendes, um Komplexität zu erreichen. Das Orchester lotete die Partitur gewissenhaft aus. Doch einige Stationen bleiben ohne Musik. Dafür können Musiker und Komponist nichts.

Obwohl Goritzki die zwölf Bilder in gut anderthalb Stunden ohne Pause durchzieht, hat sein Stück Längen. Wie heißt es bei Büchner: »Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder.« Goritzki und van Schoor kommen mit einem blauen Auge davon.

Manfred Merz, 10.06.2013, Gießener Allgemeine Zeitung