Cathérine Mivilles „Cabaret“-Inszenierung mit minutenlangem Applaus - Gießener Anzeiger

28.11.2011

Cathérine Mivilles „Cabaret“-Inszenierung mit minutenlangem Applaus gefeiert - Sahnehäubchen Sophie Berner als Sally

Eine hohe Showtreppe wie aus Revuefilmen der 30er Jahre führt von oben herab ins Etablissement, in dem die Besucher an runden Tischchen mit jeweils einem großen roten Telefon in der Mitte sitzen. Über der Szenerie dreht sich das Dach eines Karussells und leuchten die verführerischen Lichter der Großstadt Berlin: Wir befinden uns im legendären Kit-Kat-Club, den Intendantin Cathérine Miville auf die Bühne des Stadttheaters geholt hat. Bei der Premiere am Samstagabend feierte das Publikum im brechend vollen Haus ihre opulente, mit vielerlei Einfällen gespickte Inszenierung des Kult-Musicals „Cabaret“ von John Kander und Fred Ebb mit sehr lebhaftem, minutenlangem Applaus.
„Cabaret“ ist ein verlässlicher Dauerbrenner mit Straps-plus-Glamour-plus-Hakenkreuz-Faktor und unverwüstlichen Evergreens. Willkommen, bienvenue, welcome: Im Kit-Kat-Club im Berlin der gar nicht mehr so goldenen 30er Jahre wird geliebt, gesungen, getanzt. Das Karussell des Amüsierbetriebs dreht sich unverdrossen weiter, auch wenn die bedrohlichen Schatten der Nazis länger und länger werden.
Cathérine Miville hat alle Sparten in diese ehrgeizige Produktion eingebunden, lässt Schauspieler, Sänger, Tänzer und Musiker zu den beschwingt-schrägen Klängen der Zeit einen gefährlichen Tanz auf dem Vulkan vollführen. Neben dem etwa dutzendköpfigen Philharmonischen Orchester Gießen, das die mitreißenden Musiknummern im Stil der späten 20er Jahre unter der Leitung des Münchner Musical-Spezialisten Andreas Kowalewitz mit Swing, Drive und einem Schuss Sentimentalität zum Leben erweckt, tragen der Chor des Hauses (Leitung: Wolfang Wels), der Kinder- und Jugendchor (Martin Gärtner) und die Tanzcompagnie Gießen (Tarek Assam) ihr Scherflein zum Gelingen des großen Gemeinschaftswerks bei.
Wie in unzähligen Inszenierungen seit der Uraufführung 1966 und wie im weltbekannten Film mit Liza Minelli als Sally Bowles verfolgt man auch in Gießen amüsiert die Eskapaden des leichtlebigen Tingeltangel-Betriebs am Vorabend des Dritten Reichs: Leichtbekleidete Revuegirls und -boys in Fummeln mit Strapsen (Bühne und Kostüme: Matthias Moebius), hier etwas Hintern, da etwas Busen, Körper, die sich einander reiben, eine hervorragende Jazzkapelle in Frauenkleidern und witzige Choreografien (Anthony Taylor, Tarek Assam).
Daneben beleuchtet die Inszenierung in einem zweiten Erzählstrang mit überwiegend stillen Momenten das Schicksal von Fräulein Schneider (Petra Soltau), die ihr gleichermaßen unerwartetes wie spätes Glück mit dem jüdischen Obsthändler Herrn Schultz (Harald Pfeiffer) aufgibt, um sich nicht mit den kommenden Herren im Staate anzulegen. Petra Soltau, die schon auf der TiL-Studiobühne als Marlene Dietrich bewiesen hat, dass sie sehr gut singen kann, bietet diesmal als graue Maus von einer Pensionswirtin besonders mit „Heirat“ und „Wie geht’s weiter“ eine intensive Darstellung. Ihr Schauspielkollege Harald Pfeiffer steht ihr da um nichts nach, wie im jiddischen Lied „Spiel, Klezmer, spiel“ zu hören ist.
Als der französische Starregisseur Jérôme Savary Mitte der 80er Jahre „Cabaret“ mit der noch jungen Ute Lemper in Paris aufführte, stockte dem Publikum der Atem, als plötzlich eine Hakenkreuzfahne in Größe des Bühnenvorhangs heruntergelassen wurde. Einen solchen Schock gibt es bei Miville nicht. Überhaupt geht sie mit Nazi-Symbolen (hier und da eine Armbinde, mehr nicht) sehr sparsam um, weil sie vor allem den schleichenden Prozess der politischen Umwälzung und dessen Auswirkungen auf die Einzelschicksale darstellen möchte. So belässt sie es auch bei karikierenden Andeutungen, wenn sich Chor und Kinderchor zur Nazi-Hymne „Der morgige Tag ist mein“ versammeln und die Kinder zu ihren stilisierten braunen Uniformen strohblonde Haartollen und Zöpfe tragen. Auch Lukas Goldbach kommt als jovial berlinernder Nazi Ernst Ludwig ohne auftrumpfende, kraftmeiernde Attitüde aus. Für das komische Element ist Marie-Lousie Gutteck als Matrosen verschleißendes Freudenmädchen Fräulein Kost zuständig.
Das Sahnehäubchen der Inszenierung ist jedoch Sophie Berner, die die Sally Bowles schon etliche Male zwischen Berlin, München und Wien gegeben hat. Das Musical ist nun einmal ein ganz eigenes Genre, das einen speziell dafür ausgebildeten Darstellertypus verlangt. Sophie Berner singt und tanzt famos. Mit roten Haaren, Federschmuck auf dem Kopf und im dünnen Glitzerkleidchen macht sie sich von Anfang an vom allgegenwärtigen Vorbild Liza Minellis frei. Und ihre ungemein bewegliche, leicht dunkel gefärbte Stimme ist überhaupt nicht mit der Minellis zu vergleichen. Erotik ist im Spiel, wenn sie „Mein Herr“ singt, und wenn sie zum Schluss noch einmal den Titelsong anstimmt, schwingt in ihrem eindringlichen Gesang auch die Verzweiflung der unglücklich Verliebten mit.
Pascal Thomas spielt den naiven Amerikaner Cliff als ehrlichen, sympathischen Jungen, für den diese Liebesaffäre eine Nummer zu groß ist.
Als weiterer im deutschsprachigen Raum gefeierter Musical-Star konnte Andrea Matthias Pagani als Conférencier gewonnen werden. Er spielt aber nicht das Ungeheuer mit Charme und trägt auch nicht jene ans Diabolische grenzende Souveränität zu Schau, sondern nimmt der Figur viel von ihrer Zwielichtigkeit, indem er einen eher stillen, in sich gekehrten, melancholischen Beobachter mimt.
Der große Beifall am Premierenabend vermochte nicht darüber hinwegzutäuschen, dass dieser „Cabaret“-Besuch seine Längen hat und dass der entscheidende Funke in diesen zweieinhalb Stunden einfach nicht überspringen will.
Thomas Schmitz-Albohn, 28.11.2011, Gießener Anzeiger