Christian Lugerths eindringliche „Nordost“-Inszenierung mit drei hervorragenden Darstellerinnen - Gießener Anzeiger

05.03.2012

Christian Lugerths eindringliche „Nordost“-Inszenierung mit drei hervorragenden Darstellerinnen

Auf das Theater im Löbershof (TiL) ist der Schatten des Tschetschenienkrieges gefallen. In seiner eindringlichen Inszenierung des Schauspiels „Nordost“ von Torsten Buchstein taucht Regisseur Christian Lugerth die Studiobühne des Stadttheaters für anderthalb Stunden in eine finstere Atmosphäre, in der einem die Erinnerung an ein schreckliches Geschehen fast die Luft zum Atmen nimmt. Es sind vor allem die drei hervorragenden Schauspielerinnen Anne-Elise Minetti, Anne Berg und Ana Kerezovic, die die Aufführung in der intimen Nähe zum Publikum zu einem vor innerer Spannung knisternden Theaterabend machen, bei dem man ohne Übertreibung die sprichwörtliche Stecknadel fallen hören würde.
Bei der Premiere am Donnerstagabend im voll besetzten Theaterstudio dankten die Zuschauer den Darstellerinnen und dem Inszenierungsduo mit lang anhaltendem Applaus. Man spürte förmlich, wie von allen allmählich die große Anspannung abfiel. Die in Form des klassischen Botenberichts geschilderten Ereignisse hatten in dieser starken szenischen Konzentration ihre Wirkung auf die Zuschauer nicht verfehlt.
In Augenzeugenberichten, Monologen und vereinzelten Kurzdialogen wecken die drei Frauen die Erinnerung an das Moskauer Geiseldrama vom 23. Oktober 2002. Die Besucher des Dubrowka-Theaters wollen unbeschwert das Musical „Nordost“ genießen, da stürmen tschetschenische Terroristen den Saal und nehmen 850 Geiseln gefangen. Ihre Forderung: der Rückzug der russischen Armee aus Tschetschenien. Nach 57 Stunden greift eine Einheit des russischen Geheimdienstes ein. Am Ende dieses verhängnisvollen Einsatzes sind 167 Menschen tot.
Buchsteiner, der 2005 für „Nordost“ mit dem Else-Lasker-Schüler-Stückepreis ausgezeichnet worden ist, hat die Geiselnahme und ihre Hintergründe sehr genau recherchiert und beleuchtet die Vorgänge nun aus der Sicht dreier Frauen. Er lässt sie über ihre Beweggründe und Lebensumstände sprechen und öffnet so auch den Blick auf drei unterschiedliche und doch exemplarische Lebensläufe: Da ist Zura (Anne-Elise Minetti), eine der Terroristinnen, die als „schwarze Witwe“ bereit ist zu sterben. Ihr Mann wurde im Tschetschenienkrieg von den Russen erschossen. Die lettische Ärztin Tamara (Anne Berg) hat an diesem Abend Bereitschaft und ahnt nicht, dass ihre siebenjährige Tochter in der Vorstellung sitzt. Ihr Mann kehrte als psychisches Wrack aus dem Tschetschenienkrieg heim und beging schließlich Selbstmord. Schließlich ist da noch die russische Buchhalterin Olga (Ana Kerezovic), die sich mit ihrer Familie einen schönen Theaterabend gönnen will, obwohl die teuren Theaterkarten ihre finanziellen Verhältnisse übersteigen. Bei der Geiselnahme wird ihr Mann getötet, so dass auch Olga wie die beiden anderen Frauen am Ende Witwe ist.
Mit äußerst sparsamen Mitteln bringen Christian Lugerth sowie Bühnen- und Kostümbildner Bernhard Niechotz das Drama zum Klingen. Alles konzentriert sich auf das gesprochene Wort. Ein rechtwinklig verlaufender Steg auf der schwarzen Bühne mit drei Mikrofonen und drei schwarzen Stühlen; im Hintergrund ein schwarzer Gazevorhang. Anne Berg begibt sich hin und wieder hinter diesen Vorhang, um an einem Computer fremdartige elektronische Geräusche zu erzeugen. Ein weiteres Requisit ist eine große Scheinwerferbatterie, die nur zwei, drei Mal kurz eingeschaltet wird. Anne-Elise Minetti - in der Rolle der Terroristin - richtet die hell leuchtenden Scheinwerfer ins Publikum, so als sei sie im Moskauer Musicaltheater, und ruft aus: „Da schaut ihr, jetzt seid ihr dran!“
Ansonsten erzeugen die drei vorzüglichen Sprecherinnen allein durch die Sprache Hochspannung in einer von höchster Konzentration durchdrungenen Inszenierung. Da muss jedes Wort sitzen - und es sitzt. Genauso wichtig sind die Pausen, in denen für viele lange Sekunden völlige Stille herrscht. Sie bringen den Zuschauern im TiL die ungewisse, quälend lange Warterei der Menschen im Moskauer Theater beklemmend nah ins Bewusstsein. Besser kann man es nicht machen.
Thomas Schmitz-Albohn, 03.03.2012, Gießener Anzeiger