Der Freischütz“ als Waffennarr zwischen Vereinsmeierei und Amoklauf im Stadttheater - Gießener Anzeiger

17.09.2012

GIESSEN. Es war ganz großes Theater, was die Zuschauer im ausverkauften Stadttheater am Samstag erlebten. Chor und Extrachor, Philharmoniker und vier Gastsänger boten eine grandiose Oper voller Überraschungen, einfühlsame Arien, überzeugende Massenszenen und vor allem moderne Interpretation, die die brillante Musik weitgehend unangetastet ließ.
Er ist fast ein Nationalheld, der Max aus Carl Maria von Webers romantischer Oper „Der Freischütz“. Als Max an den Initiationsriten der hohen Forstgesellschaft zu scheitern droht, lässt er sich mit den teuflischen Mächten ein und gießt sich Freikugeln, die immer treffen. Aber, wie es bei Nationalhelden so ist, wird er zum Guten bekehrt, erschießt den Bösewicht und bekommt Bewährung. Soweit das triviale Vorbild, das in brillanter Musik eigentlich eine kitschige Gruselgeschichte erzählt.

Im Gießener Stadttheater ist vom deutschen Helden im deutschen Wald nicht viel geblieben. Der britische Gastregisseur Nigel Lowery hat die „Nationaloper“ in ein gelungenes Psychogramm einer spießigen Gesellschaft von Waffennarren verwandelt. Dabei liefert der neue Generalmusikdirektor Michael Hofstetter die Musik imposant inszeniert und perfekt dargeboten.

Schon der Beginn setzt neue Akzente. Die edle Jägergesellschaft ist zu einem dörflichen Schützenverein mutiert: Kuno (Calin Valentin Cozma) ist Vereinsvorsitzender und agiert wie der örtliche Sheriff in einem Ort im amerikanischen Mittelwesten. Nachdem Max, von Gasttenor Eric Laporte einfühlsam gespielt und gesungen, wieder daneben geschossen hat, wird er von den anderen Schützen verhöhnt. Ottokar, als alter Schützenkönig, von Adrian Gans gespielt, wirkt wie ein verwirrter Außenseiter der Gesellschaft und weigert sich, die Krone abzugeben.

Kaspar, glanzvoll gesungen von Marcell Bakonyi, überredet Max, mit ihm Freikugeln zu gießen, damit er beim Probeschuss am nächsten Tag seine Agathe und die Erbförsterei bekommt. Lowery macht aus der hoheitlichen Erbförsterei ein zwielichtiges Jagdzubehör- und Waffengeschäft. Im Laden ist Ännchen. Naroa Intxausti spielt die Vertraute der Agathe als biederes Tantchen, das ans Gute glaubt und dabei eine Schaufensterpuppe als Angebot der Woche zum Terroristen ausstaffiert.

Umwerfender Gesang

Ganz herausragend ist Gastsopranistin Sarah Wegener, die eine wunderbare Agathe ist und für ihren umwerfenden Gesang immer wieder Zwischenapplaus und Bravorufe bekam. Für die Szene in der Wolfsschlucht greift Lowery zu ganz besonderen Mitteln. Auf der transparenten Leinwand führt ein Film das Publikum durch den Wald bis zu dem unheimlichen Ort, an dem die Beschwörung des Teufels stattfindet.

Während Kaspar die Freikugeln gießt, zeigt der Film Max, wie er sich mit dem Terroristenoutfit ausstaffiert und zu einem Amoklauf aufbricht. Dazu donnert und blitzt es bis in den Zuschauerraum hinein. Warum allerdings zum Ende der unheimlichen Schlüsselszene ein überdimensionierter Phallus auf der Bühne emporragt, erschließt sich dem Zuschauer nicht.

Auch die Sextänzerin zu Beginn des dritten Akts entspringt wohl eher dem Gedanken „Sex sells“ als einer inhaltlichen Absicht, die das Geschehen auf der Bühne voranbringen könnte. Fast schon genial wird es aber, als die Brautjungfern in gruseliger Freundlichkeit Agathes Brautkleid bringen und es symbolisch zum Totenhemd umwidmen. Martin Gärtner lässt die Frauen des Jugendchors das berühmte Hochzeitslied „Wir winden Dir den Jungfernkranz“ so bedrohlich singen, dass man mit Agathe um ihr Leben fürchtet.

Als es zum Showdown kommt, lässt Lowery die ganze Gesellschaft wie erschossen zu Boden sinken und erst nach und nach stellt sich heraus, dass nur Kaspar tödlich getroffen wurde. In den Jubel über den Sieg von Max über das Böse hinein betritt der Eremit die Bühne. Mit Tobias Schabel hat Hofstetter einen wunderbaren Bass für die Rolle verpflichtet und Lowery setzt mit der Interpretation der Rolle als leitender Arzt in einer psychiatrischen Klinik einen überraschenden Schlussakkord.

Absage an die Verehrung

Die ganze Schützengesellschaft besteht aus Patienten und die Bewährung, die der Eremit dem Todesschützen Max gewährt, ist ein weiterer Verbleib in der geschlossenen Anstalt. Das Bühnenbild und die Inszenierung zeugen von einer mutigen Absage der Verehrung der bewaffneten Nationalgesellschaft. Die gelungenen Kostüme von Bettina Munzer sorgen dafür, dass gar nicht erst der Gedanke an eine edle Schützenzunft aufkommt.

Jan Hoffmann hat Chor und Extrachor zu einer schauspielerischen und gesanglichen Glanzleistung gebracht und die Philharmoniker spielen unter Michael Hofstetter so gut wie nie. Regisseur Lowery und Generalmusikdirektor Hofstetter bringen mit dieser Interpretation des Freischütz eine gelungene Modernisierung des romantischen Melodrams auf die Bühne, die unbedingt empfehlenswert ist.

Klaus-J. Frahm, 17.September 2012, Gießener Anzeiger