Der Schoß des Mannes birgt das Böse - Oberhessische Presse Marburg

25.09.2012

Ganz schön irre, was Regisseur und Bühnenbildner Nigel Lowery zum Auftakt der Opernspielzeit in Gießen angerichtet hat. Als Vorlage dient ihm Carl Maria von Webers romantisches Meisterwerk.
 
Gleich wenn sich der Vorhang hebt, ist klar: Das Ganze wird nicht freudig enden, wie es Carl Maria von Weber in seinem „Freischütz“ komponiert hat, sondern im Irrenhaus. Denn bereits beim einleitenden Preisschießen ist Fürst Ottokar mit dabei, der eigentlich erst im Finale auftreten soll: ein ziemlich durchgeknallter Herrscher, der sich wie einst Gaddafi in eine römische Toga hüllt. So bringt am Ende kein weiser Eremit als himmlischer Gesandter die Erlösung, sondern ein Halbgott in Weiß - Freud lässt grüßen.

Regisseur und Bühnenbildner Nigel Lowery, der es gewohnt ist, an den großen Häusern der Opernwelt wie Londons Covent Garden zu inszenieren, gießt über das Publikum in der Provinz ein Füllhorn an Einfällen aus, die teils die fantastische Vorlage schlüssig neu interpretieren, diese aber auch heftig konterkarieren. Überzeugend ist, den teuflischen Einflüsterer Kaspar als hassgeliebtes Alter Ego des beim Probeschuss glücklosen Jägerburschen Max zu deuten, der während dessen Verzweiflungsarie aus einem Spiegel heraustritt: ein für die Försterstochter Agathe durchaus attraktiver Untoter. Diese sieht in den Kostümen Bettina Munzers zwar aus wie eine graue Maus, ist bei Lowery aber überhaupt keine stille Dulderin. Und Ännchen, ihre junge Verwandte? Die ist ein spätes Mädchen, das wohl auch in Zukunft keinen Mann bekommen wird.

So weit, so gut. Bis Lowery kurz vor der Pause der Feinsinn sowie der britische Humor verlassen und er den Holzhammer auspackt. Die mit einer gruselig-grandiosen Kamerafahrt durch den nächtlichen mittelhessischen Wald begonnene „Wolfsschluchtszene“ lässt er mit einer Geschmacklosigkeit sondergleichen enden: Beim Gießen der unfehlbares Schützenglück verheißenden Freikugeln erlebt Max den Albtraum eines Amokläufers, der eine Schulklasse niedermäht.

Und Samiel, die Inkarnation des Teufels? Er erscheint als monströser in den Bühnenhimmel ragender Penis. Haben wir es doch schon immer gewusst: Der Schoß des Mannes birgt das Böse. Und Männer denken nur an das eine, wie der an eine Tabledancerin gerichtete „Jägerchor“ zeigt.

Kein Wunder, dass dem Regisseur am Samstag beim Schlussapplaus ein im Stadttheater Gießen schon lange nicht mehr erlebter Buh-Sturm entgegenblies. Überschäumend gefeiert wurden jedoch der neue Generalmusikdirektor Michael Hofstetter, der auf vibratoarmen Originalklang setzte, und das Sängerensemble - allen voran die so lyrisch zarte wie leuchtend jubilierende Sarah Wegener als Agathe. Stimmlich und figürlich ideal besetzt ist auch Kaspar mit Marcell Bakonyi, der seinen nachtschwarzen Bass dämonisch auftrumpfen und verführerisch glänzen lässt.

Eric Laporte als Max überzeugt als lyrischer Tenor auch mit heldischem Strahl, bleibt aber im Ausdruck etwas farblos. Naroa Intxausti bezaubert als Ännchen mit glockenklarem Sopran.

Michael Arndt, 18. September 2012, Oberhessische Presse Marburg