Die Geschichte der Gegenentwürfe - Frankfurter Rundschau

13.05.2013

Cathérine Miville inszeniert in Gießen die deutsche Erstaufführung von Peter Maxwell Davies‘ „Kommilitonen!“

Wenige Minuten lang ist Soldat James Meredith allein mit sich und der Stimme seines Sergeants, die letzte private Phase seines Lebens. Danach will er sich als erster schwarzer Student an der University of Mississippi einschreiben und tritt damit eine Lawine an gewalttätigem Südstaaten-Rassismus los.. Es sei sein Land, sagt er, jeder Mensch müsse für das kämpfen, was ihm gehört. Das klingt einfach und sehr amerikanisch und verbindet ihn wie ein Kniegelenk mit der Widerstandsbewegung der Weißen Rose, von wo es weitergeht zu den jungen Roten Garden der chinesischen Kulturrevolution.

Auf den ersten Blick verschränkt Peter Maxwell Davies‘ Oper „Kommilitonen!“ drei Geschichten anhand verbindender Motive unter Verzicht auf jegliche Chronologie und Geographie zu einem politisch grundierten (und zuweilen durchaus pathetischen) Werk. Es gibt aber noch einen vierte und – zumal in der deutschen Erstaufführung am Stadttheater Gießen – eine fünfte Komponente, die von der politisierenden Oberflächenwirkung in eine Tiefe weist, in der eine wichtige Frage beantwortet wird: Warum schreibt ein verdienter Komponist der britischen Moderne, der keine Oper mehr schreiben wollte, gerade diese Oper?

Die vierte Komponente zitiert zwei zentrale Figuren der abendländischen Mentalgeschichte herbei: Jesus Christus und die Inquisition. Die fratzenhaft lebensfeindliche Inquisition beschuldigt einen sanften Jesus, er störe die Politik der Kirche durch sein Gerede von Freiheit und Liebe. Jesus küsst den Inquisitor, ohne damit die Inquisition besiegen zu wollen oder gar zu können.

Die fünfte Komponente der Oper ist der öffentliche Platz, auf dem sich Widerstand immer wieder zusammenfindet: spontan, manchmal entwaffnend zweckfrei oder erschreckend naiv, stets im Widerstand zugleich einen Gegenentwurf an Öffentlichkeit, Freiheit und Moral suchend. Der Platz ist das geschichtsübergreifende Moment der vielstimmigen Oper und Ausgangspunkt ihrer anthropologisch-politischen Ausrichtung. Wenn dieses Werk eine Wirkungsabsicht verfolgt, dann besteht sie in dem Wunsch, dass es immer solche Plätze der menschlichen Versammlung und Besinnung geben möge.

Cathérine Mivilles Inszenierung folgt in vielem der Uraufführung, David Pountney (der auch das Libretto schrieb) an der Royal Academy of Music in London realisiert hat. Sie hat einige Textpassagen übersetzt oder übersetzten lassen, sodass die Weiße Rose meist Deutsch singen kann und die Chinesen manchmal Chinesisch. Den Sinn der Oper stützt der so entstehende Eindruck von Vielsprachigkeit. Die Inszenierung bringt große Menschenmengen auf die Bühne, ordnet sie übersichtlich und manchmal effektvoll und betont wirkungsvoll die enorme (manchmal erhellend widersprüchliche) Rolle der Chöre in Davies‘ Oper  (Einstudierung der Chöre: Jan Hoffmann, Martin Gärtner). Mit Unterstützung der Hessischen Theater-Akademie bringt sie viele Studenten auf die Bühne, wie sich Davies das für dieses Werk gewünscht hat. Lukas Nolls Bühnenbild arbeitet klug mit sinnreichen Raumaufteilungen, effektvollen Projektionsflächen und dezent eingesetzter Bühnentechnik.

Die Gießener Inszenierung kann zudem auch mit einem vorzüglich arbeitenden Orchester und einer schwungvollen Marching Band punkten (Musikalische Leitung: Michael Hofstetter, Herbert Gietzen), die sich mit großer Kompetenz der polystilistischen Musik widmen. Peter Maxwell Davies‘ Komposition arbeitet mit zeichenhaft eingeblendeten Idiomen, die an Kunstmusik der dreißiger Jahre (bei der Weißen Rose), an chinesische Klassische Musik und Rotgardistenmärsche sowie an Blues-Pentatonik erinnern und weniger einen individuellen Kompositionsstil herausscheinen lassen als vielmehr einen handwerklich und dramatisch ausgerichteten Zugang zur Musik.

Eine Stärke der Inszenierung machen auch die ausgezeichneten Solisten aus wie Maria Chulkova und Tomi Wendt als Sophie und Hans Scholl, Adrian Gans als Meredith, Sofia Pavone und Bomi Lee (von der Frankfurter Musikhochschule) als Wu und Li und Naroa Intxausti als Zhou. Das Premierenpublikum ließ sich bereitwillig in die Geschichte hineinziehen und applaudierte nachhaltig. Selten kann man besseres Stadttheater erleben.

Hans-Jürgen Linke, 07. Mai 2013, Frankfurter Rundschau