Ein intensiver Theaterabend mit »Nordost« im TiL - Gießener Allgemeine Zeitung

05.03.2012

Ein intensiver Theaterabend mit »Nordost« im TiL

Tagtäglich flimmern die Bilder des weltweiten Terrors in den Fernsehnachrichten. Der Zuschauer registriert die Szenen zwar, das Grauen wird aber bald verdrängt. Gegen dieses Vergessen hat Torsten Buchsteiner sein Stück »Nordost« geschrieben, das am Donnerstag auf der TiL-Studiobühne Premiere hatte.
Regie führt Christian Lugerth, der den Zuschauern einen gerade auch in der Reduktion auf das Wesentliche, ungemein intensiven und sehenswerten Theaterabend bereitet.

»Nordost« erzählt von der Geiselnahme durch tschetschenische Rebellen in einem Moskauer Musicaltheater im Jahr 2002. 850 Männer, Frauen und Kinder wurden dort über 57 Stunden festgehalten, 167 Menschen kostete es das Leben, nachdem Putins Geheimdienst Gas in das Theater einströmen ließ. Buchsteiner lässt in seinem Stück drei Frauen das Geschehen aus ihrer jeweiligen Perspektive erzählen: Zura, die tschetschenische Selbstmordattentäterin, die Russin Olga, die eigentlich nur mit ihrer Familie einen schönen Theaterabend erleben wollte, und die lettische Ärztin Tamara, die sich zum Einsatz meldet, weil ihre Tochter und Mutter unter den Geiseln sind. Wer ist Täter? Wer Opfer? Wer hat Schuld? Diese Fragen beantwortet das Stück nicht. Jede der drei Frauen, die allesamt durch den Tschetschenien-Konflikt zu Witwen wurden (oder werden), hat ihr eigenes Schicksal und ist den äußeren Umständen – sowohl den politischen Verhältnissen, als auch dem von den Männern bestimmten Alltagsleben – ausgesetzt.

Lugerth inszeniert »Nordost« quasi als Hörbuch. Die drei Frauen erzählen im Minutentakt ihre jeweilige Geschichte. Interaktion gibt es so gut wie nicht. Zu unvereinbar sind die Welten der drei Frauen, und umso heftiger wirkt ihr Aufeinandertreffen – im Theater wie im Krieg. Rhythmisches Klopfen auf die Mikrofone und das von Anne Berg gespielte Theremin, bei dem die berührungslose Position der Hände gegenüber zwei Elektroden verzerrte Klänge erzeugt, sorgen für nervenzerreißende Spannung. Das teils auch auf den Zuschauerraum gerichtete grelle Licht der Strahler lässt erahnen, wie sich die Geiseln gefühlt haben müssen. Bernhard Niechotz hat die Bühne entsprechend reduziert gestaltet: Ein schwarzer Laufsteg, ein paar Stühle, ein zerschlissener Vorhang, der ein von Wellen umtostes Schiff aus dem ursprünglichen Musical zeigt.

Dass der eineinhalbstündige Theaterabend tiefen Eindruck hinterlässt, ist in erster Linie das Verdienst der drei Schauspielerinnen: Anne-Elise Minetti zeigt die Tschetschenin Zura in ihrer von Blutrache und patriarchalen Strukturen zerrissenen grausamen Realität. Diese »schwarze Witwe« ist nicht nur Täterin, sondern vor allem auch Opfer. Ana Keresovic gibt der russischen Theaterbesucherin Olga leicht naive Züge. Dass der Krieg sie ausgerechnet in der heilen Welt des Musicals trifft, bringt sie aus der Fassung. Anne Berg zeigt die lettische Ärztin Tamara als ungemein starke Frau, die sich mit aller Kraft gegen das Schicksal stemmt.
Karola Schepp, 03.03. 2012, Gießener Allgemeine Zeitung