Erstaufführung der Oper „Kommilitonen!“ im Stadttheater – Vorzügliche Inszenierung von Cathérine Miville - Gießener Anzeiger

07.05.2013

Einen grandiosen Erfolg erzielte am Sonntag die deutsche Erstaufführung der Oper „Kommilitonen!“ des Briten Peter Maxwell Davies. In der glänzenden Inszenierung der Intendantin Cathérine Miville und unter der herausragenden musikalischen Leitung von GMD Michael Hofstetter und seinem Stellvertreter Herbert Gietzen erlebten die hingerissenen Besucher des voll besetzten Hauses ein Theaterereignis erster Güte.

Es war ein großes Ereignis – hr 2 Kultur übertrug das Spektakel live, Deutschlandradio Kultur sendet es am 11. Mai, und alle kreativen Kräfte des Hauses waren im Einsatz. Am Ende wollte der Beifall nicht aufhören, und dabei hatte man kein einziges Lied dieser zeitgenössischen Oper mitsingen können.
Wortlos, aber bedeutungsvoll begann die Oper, indem man vorab durch eine transparente Leinwand riesige Fotos von Demonstrationen der Occupy-Bewegung an der Wall Street sehen konnte, eine Fassade ragte dahinter schräg in den Raum, und beides deutete das inhaltliche Format des Stücks an. Es ging um Macht, Unterdrückung und vor allem Widerstand, den der jungen Leute.

Drei Handlungsebenen

Die Oper verknüpft drei Handlungsstränge. Da ist „The Oxford Revolution“ über den schwarzen Amerikaner James Meredith und seinen Kampf, an der Universität von Mississippi zugelassen zu werden. Die zweite ist „Die weiße Rose“ über die Studenten Hans und Sophie Scholl an der Uni München, und Nummer drei mit dem klangvollen Titel „Das Lied des Himmels“ verfolgt das tragische Schicksal eines Studenten und dessen Familie während der chinesischen Kulturrevolution.

Die Produktion zeigt von Beginn an einen typischen inhaltlichen und szenischen Fluss und zugleich eine ungewöhnliche optische Qualität, der Betrachter kann sich an zahllosen Details sattsehen und sich von ihnen anregen lassen. Oder er gibt sich den musikalischen Genüssen hin: Adrian Gans (Meredith) liefert ein Beispiel für Klarheit, klangvolle Intonation und Sprachverständlichkeit, seine charaktervolle Stimme prägt die Figur sofort nachhaltig. Gleichauf agiert Maria Chulkova (Sophie Scholl), die mit geradezu traumhafter Reinheit und feinster Nuancierung glänzt. Verblüffend versiert und kompetent agiert auch Sofia Pavone (Wu, Sohn von Wu Tianshi), Studierende der Frankfurter Hochschule für Musik und darstellende Kunst. Sie und ihre Mitstudierenden stellen fast alle Figuren für „Lied des Himmels“, was der Authentizität sehr zugutekommt. Das Ensemble insgesamt leistet sich keine Schwächen.

Aber der Haupteindruck – wenn man diese ungewöhnlich homogene Produktion analytisch betrachtet – entsteht durch das Philharmonische Orchester. Michael Hofstetter hat den Klangkörper geradezu entfesselt und musiziert bei formidabler Geschlossenheit und beispielhafter Durchhörbarkeit mit solchem Temperament, dass die glasklare Musik sich gleichsam aus den Grenzen des Grabens befreit und in der Szene zu schweben scheint. So bemerkt man, dass die rundum ungewohnte, zuweilen leicht sperrige – aber nie langweilige – Musik eine besondere Verzahnung mit der Handlung und den Bildern aufweist, was sie verblüffend einleuchtend wirken lässt und dem Stück eine besondere Faszination verleiht. Nebenbei passieren allerlei Intermezzi, es gibt eine Marschkapelle, die zuweilen zackig durchmarschiert, und auch ein Jazztrio.

Essenziell für Wirkung und Atmosphäre ist Lukas Nolls formidables Bühnenbild, ein universeller Platz mit der gewaltigen ins Bild ragenden Fassade, der mit sparsamen, doch markanten Mitteln zuweilen in kleine Szenen reduziert wird. Vor allem sorgen die auf projizierten Bilder und Lichteffekte für permanente Abwechslung und inhaltliche Vertiefung; sehr geschickt. Auffallend sinnfällig wirken auch die Kostüme von Bernhard Niechotz, die einen deutlichen zeitgemäßen Bezug aufweisen.

Belebende Idee

Ein wesentliches Element bilden Chor sowie Kinder- und Jugendchor. Nicht nur wurden sie von Jan Hoffmann und Martin Gärtner zu bester musikalischer Präsenz und hoher Sprachverständlichkeit gebracht, sie führen auch ihre Rollen als Demonstranten oder etwa Handlanger tadellos aus (Choreografie Anthony Taylor). Aufgegangen ist auch die belebende Idee, einige Chormitglieder solistisch herauszustellen. Ungewöhnlich ist die Präsenz der inhaltlichen Dimension, die den Ruf nach Freiheit, die Reflexion der Unterdrückung und den expliziten Aufruf zum Widerstand aufgreift und sehr plausibel umsetzt.

Cathérine Mivilles Inszenierung setzt zum einen auf einen Fluss vorzüglich gestalteter bewegter Bilder und schafft zugleich zahlreiche einprägsame Momente, in denen Sängerinnen und Sänger darstellerisch zur Wirkung kommen. Es gelingen etwa bemerkenswerte, auch sehr originelle Massenszenen mit den Roten Garden, die in ihrer maximalen Wucht etwas konkret Bedrückendes besitzen, zugleich aber klar ausbalanciert bleiben und nie übertrieben sind. Diese Stimmigkeit speist sich auch aus der kompositorischen Verbindung der Musik mit der Geschichte, die in der Inszenierung ideal werkdienlich und stimmig umgesetzt wurde. Ein herausragender Theaterabend.

Heiner Schultz, 07.05.2013, Gießener Anzeiger