Fülle von Sinneseindrücken aus dem Innenleben - Gießener Anzeiger

10.06.2013

Regisseur Thomas Goritzki spielt nackt in Gießener Uraufführung von „Buch.Bühne.Büchner“ mit

Georg Büchner ist 21 Jahre alt, als er nach Gießen kommt, um Medizin zu studieren. Es vergeht kein Jahr, da wird er von den Behörden wegen revolutionärer Umtriebe steckbrieflich gesucht und muss die oberhessische Provinzhauptstadt und seine Studentenbude im Seltersweg Nr. 19 wieder fluchtartig verlassen. „Ich bin 21 Jahre alt.“ Diesen Satz hört man an dem mit „Buch.Bühne.Büchner“ überschriebenen Theaterabend viele, viele Male – bis zum Überdruss. Er wird gesprochen, geraunt, geflüstert, gesungen, im Chor skandiert und immer wieder von verschiedenen Personen hervorgebracht, die aber alle Büchner sind.

Der Satz „Ich bin 21“ und weitere Personenbeschreibungen aus dem damaligen Steckbrief verfolgen den Zuschauer gut anderthalb Stunden lang. So lange dauert die mit großem Ehrgeiz und Aufwand in Szene gesetzte Eigenproduktion des Gießener Stadttheaters, und in dieser Zeit werden zwölf „Stationen einer Jagd“, so der Untertitel, durchschritten. Alle kreativen Kräfte des Hauses am Berliner Platz – Orchester, Chor, Sprechchor, Chorkinder, Schauspieler, Sänger und Tänzer – sind darin eingebunden, um das kurze, intensive Dichterleben, das nur 23 Jahre währte, zu beleuchten. Unter der Regie von Thomas Goritzki, der auch das Textbuch verfasste, und zur Musik von Richard van Schoor entfaltet sich ein reicher Bilderbogen, dessen Bezugsperson einzig und allein Büchner ist. Zeitgenossen, die seinen Lebensweg kreuzten, oder Figuren aus seinen Stücken treten nicht auf. Ebenso begegnet man auch keinen Originalzitaten aus seinen Dramen oder Briefen.

Obwohl am Samstagabend das schönste Sommerwetter ins Freie lockte, erfreute sich die Uraufführung vor vollem Hause eines sehr guten Besuchs, und nachdem sich der schwarz-rot-gelb (oder gold?) gefleckte, wie in einer Manege rundumlaufende Vorhang (Bühne: Heiko Mönnich) wieder über Büchners Innenleben geschlossen hatte, spendete das Premierenpublikum freundlich Beifall. Wer sich auf dieses Theaterexperiment einlässt, wird mit einer Fülle von Sinneseindrücken und zum Teil sehr originellen, prägnanten Bildern belohnt. Gleichzeitig strahlen aber manche Szenen kreativen Übereifer aus und erinnern an das darstellende Spiel einer überambitionierten Schüleraufführung. Überall ist der Anspruch spürbar, Großes schaffen zu wollen. Welche Erkenntnis der Zuschauer von diesem Abend mit nach Hause nehmen soll, ist freilich nicht so leicht zu beantworten.

Ausrufezeichen

Bedeutungsschwer und unheilverkündend setzt die Musik von Richard van Schoor, der auch das Philharmonische Orchester dirigierte, die ersten Ausrufezeichen. Das dichte musikalische Geflecht mit Anklängen an Strawinsky, Prokofieff und impressionistische Ästhetik untermalt die seelischen Vorgänge des jungen Dichters sehr effektvoll und unterstreicht die innere Dramatik. So gleich zu Beginn, wenn es unter einer weißen Folie wuselt und wabert und ein von Mitgliedern der Tanzcompagnie verkörpertes Menschenknäuel sich immer wieder neu aufbäumt, um nach oben zu gelangen. Dann ist das Kind geboren, ein adrett gekleideter Knabe (Lorenz Oehler), der sogleich verkündet, dass er 21 Jahre alt ist. Ihm zu Füßen kriechen die Tänzer wie menschliches Gewürm, die sich im Rhythmus des Atmens heben und senken. Ein weiteres starkes Bild liefern die Tänzer: Um Büchners Flucht zu verdeutlichen, schlüpfen sie in große Holzschuhe, die in langen Seilen vom Schürboden hängen, und vollführen darin Riesenschritte wie in den Siebenmeilenstiefeln aus dem Märchen (Choreografie: Tarek Assam). Eine kräftezehrende Nummer!

Zittern und Zucken

Der von Vincenz Türpe und seiner Schauspielkollegin Anne-Elise Minetti dargestellte Büchner ist ein Stotterer, der keinen vernünftigen Satz herausbekommt und seinen von Spasmen durchzuckten Körper nur schwer kontrollieren kann. Türpe zittert und keucht sich durch die Rolle. Minetti zieht dagegen wie Marianne, die Symbolfigur der Freiheit in der Französischen Revolution, mit einseitig unbedeckter Brust ins Feld. Sopranistin Maria Chulkova und Bassbariton Tomi Wendt senden derweil gesangliche Eruptionen und schrille Sirenentöne aus.

Geradezu kindisch und auch unfreiwillig komisch ist es, wenn der Sprechchor das Vaterunser rückwärts aufsagt und wenn Minetti und Türpe gegen ein großes, weißes, aufblasbares Kreuz kämpfen, während im Hintergrund ein Chor aus Kardinälen lustig hüpft.

Ohne Schnickschnack

Den stärksten Moment hat die Aufführung aber genau dann, wenn auf jeglichen szenischen Schnickschnack verzichtet wird. So tritt Thomas Goritzki selbst auf die Bühne und bekennt, er habe ein Vermittlungsproblem mit dem „Hessischen Landboten“. Ohne den „Landboten“ könne man Büchner und Büchners Rolle in Gießen nicht erklären. Die von ihm darin gegeißelte Ungleichheit der Menschen sei heute so aktuell wie zu seiner Zeit. Um künstlerisch zu verdeutlichen, dass es Menschen gebe, die ihre Haut zu Markte tragen müssten, hätte man zum Beispiel die Belegschaft des Stadttheaters auf der Bühne nackt zeigen können.

Doch Goritzki wählt einen anderen Weg und rezitiert den „Landboten“ mit den berühmten Worten „Das Leben der Vornehmen ist ein langer Sonntag: sie wohnen in schönen Häusern, sie tragen zierliche Kleider, sie haben feiste Gesichter und reden eine eigene Sprache; das Volk aber liegt vor ihnen wie Dünger auf dem Acker“. Dabei zieht er sich Stück für Stück aus, bis er bei dem Satz „Ihr seid rechtlos und habt nichts“ völlig nackt vor dem Publikum steht. Auf diesen Einfall wäre vielleicht auch Büchner gekommen.

 

Thomas Schmitz-Albohn, 10.06.2013, Gießener Anzeiger