»Kinder der Sonne« am Stadttheater - Gießener Allgemeine Zeitung

04.03.2013

Wolfram J. Starczewski inszeniert Maxim Gorkis »Kinder der Sonne« am Stadttheater als zeitlose, unterhaltsame Mahnung. Lukas Noll punktet mit einem genial-durchdachten Bühnenbild.
 
Als Maxim Gorki 1905 in der Petersburger Arrestzelle »Kinder der Sonne« schrieb, da soll er der Legende nach immer wieder herzhaft gelacht haben. Die Geschichte um den Wissenschaftler Pawel Protassow, der mit seinen Freunden, den »Kindern der Sonne«, nicht wahrhaben will, dass außerhalb seines gutbürgerlichen Hauses tödliche Gefahr droht, bietet in der Tat komische, boulevardeske Momente – doch das Lachen bleibt denen auf der Bühne und denen im Publikum im Halse stecken. Am Stadttheater hatte Gorkis wie durch Zauberhand aktuell aus der Versenkung auf zahlreiche Bühnen gezerrtes Stück am Samstag Premiere in einer Inszenierung von Wolfram J. Starczewski.

Starczewski, der schon am Theater der Stadt Heidelberg als Hausregisseur in die Fußstapfen von Stephan Kimmig getreten war – jener Kimmig, der im Oktober 2010 mit seiner Inszenierung von »Kinder der Sonne« am Deutschen Theater in Berlin den Boom angestoßen hatte – verlegt wie dieser das Spiel vom russischen Intelligenzija-Milieu mitten hinein in die Jetztzeit, bei Starczewski irgendwo in den Sechzigern. Der von Volker Seidler eigens kreierte Schallplatten-Sound und das holzvertäfelte Bühnenbild mit dem Charme der Kongresshalle legt diese Assoziation nahe.

Diffus bleibt die Bedrohung, die die Sonnenkinder so hilflos ignorieren. Es ist eben nicht mehr wie im Original die Cholera und das aufgebrachte Proletariat, sondern irgendeine Krise, wie sie auch uns tagtäglich überrollt: Eurokrise, Klimawandel, Pferdefleischskandal, Bioeier. Ein kurzer empörter Aufschrei und dann verdrängen auch wir heutigen Kinder der Sonne schnell wieder die Gefahr, tanzen weiter auf dem Vulkan. Die Parole lautet: »Weitermachen!«

Gorkis Figuren haben hohe Ansprüche an das Leben, wollen die Welt zumindest theoretisch verbessern – und kreisen doch nur um sich selbst. »Wir dürfen keine Angst haben« beschwören sie auch dann noch, als das da Draußen in das Innere, ihre Höhle eindringt. Lukas Noll hat dafür ein geniales Bühnenbild entworfen. Stück für Stück krachen Wände ein und am Ende sieht es aus wie nach einem Erdbeben. Und selbst dann noch heißt es für die Sonnenkinder nur: »Tee oder nicht Tee, das ist hier die Frage.«

Milan Pešl spielt den Forscher Pawel, der sich in seinem Elfenbeinturm der Welt entzogen hat, als zappelig-naiven Utopisten, der das Gute will und doch das Scheitern seiner Kaste nicht verhindern kann. Beinahe verliert er seine Frau Jelena – von Carolin Weber als latent aggressive, frustrierte Frau charakterisiert – an den Maler Wagin, den Roman Kurtz in übertriebener Künstlerpose spielt. Und auch die Verliebtheit der dümmlichen Milenja (Mirjam Sommer), die sich ihm wie ein Groupie an den Hals wirft, ist für Pawel zu viel der Wirklichkeit. Da steckt er doch lieber seine Nase in seine Aufzeichnungen. Pawels Schwester Lisa kann Ana Keresovic eine wohltuend unlächerliche Färbung geben. Hinter ihrem mädchenhaften Gebahren verbirgt sich tiefer Schmerz, dessen Ursache allerdings im Ungewissen bleibt. Kassandrahaft warnt sie die Kinder der Sonne: »Ihr ignoriert alle anderen, das wird euch vernichten« und treibt gleichzeitig mit ihrer Unentschlossenheit den sie liebenden Tierarzt Boris (Vincenz Türpe gibt ihn als grausamen Zyniker) in den Selbstmord.
 
Als Einzige heil aus der Sache heraus kommt das Dienstmädchen Fima (Anne-Elise Minetti), dessen Rolle Starczewski deutlich erweitert hat. Die kodderschnauzige Hausangestellte mit Barbarella-Outfit kann, weil das grantige Kindermädchen Toni (Petra Soltau) unerwartet Herz zeigt, das Heim der Kinder der Sonne verlassen und sich eigenverantwortlich durchs Leben schlagen. Rainer Hustedt ist als grobschlächtiger, prügelnder Handwerker Jegor zu sehen und vervollständigt damit das äußerst knappe Proletarier-Personal dieser Inszenierung. Pascal Thomas mimt als Hausbesitzer Nasar, quasi als gesellschaftlichen Gegenentwurf, den kapitalistischen Zopfträger in Businessman-Verkleidung, der den Wert alles Lebens nur in barer Münze misst.

Starczewski lässt gut zwei Stunden lang die Kinder der Sonne ihre makabre, aber unterhaltsame Nabelschau zelebrieren. Gorkis Stück zeigt er, entstaubt vom russischen Flair und mit komischen (Tanz)einlagen, als zeitlose Mahnung, dass unser aller Spiel am Abgrund keine Lösung der Probleme ist. Da bleibt das Lachen schon mal im Halse stecken – oder der Applaus weniger enthusiastisch als verdient.

Karola Schepp, 04.03.2013, Gießener Allgemeine Zeitung