Klischees hinterfragen - Wetzlarer Neue Zeitung

21.11.2012

Klischees hinterfragen
„Viktoria und ihr Husar“ am Gießener Stadttheater

Gewöhnungsbedürftig ist Alexandra Szemerédys und Magdolna Parditkas Inszenierung zunächst schon. Beim opulenten Schlussbeifall buht eine Stimme „Etikettenschwindel“. Doch ihr „Viktoria und ihr Husar“ am Stadttheater Gießen hat Biss, Tempo, Phantasie und Tiefgang. Samstagabend war die Premiere.
Die Inszenierung polarisiert, weil Operettenlklischees ironisch hinterfragt werden und Realität mit Märchenwelt kontrastiert sind. Erster Weltkrieg, Flucht und Gefangenschaft sind in der Erstaufführung der „bühnenpraktischen Rekonstruktion“ von Hagedorn und Grimmiger thematisiert. Mehrere Spielebenen sorgen für Abwechslung. Simultan bis ins Groteske gesteigerte Bauernszenen stehen im Kontrast zu Ballszenen der Oberschicht. Eine Videobefragung in der Gießener Fußgängerzone räumt mit dem Klischee über Ungarn gleich Czardas und Gulasch auf. Ungarisches Kolorit bringen die tanzenden Schweinderl während der Foxtrott der O Lia San (Kess und mit biegsamer Stimme Naroa Intxausti) beim Ping-Pong-Spiel abläuft (Choreografie Tarek Assam, Anthony Taylor).
Die Zeitsprünge von Viktoria und ihrem getreuen Husar werden durch Bilderwechsel von Hitler bis Stalin angedeutet, die Rundfundreportage des legendären Fußballendspiels von 1954 setzt einen Schlusspunkt. Das ist unbequem und verstörend, doch machen die „Brüche“ Sinn. Die überbordende Energie und Spiellaune fegt dies weg, zumal der süße Klang der Geige das Bellen der Gewehre vergessen lässt. In Zeitlupe werden körperliche Auseinandersetzungen gespielt, die Drehbühne mit Treppenaufbau, freche und elegante Kostüme der 50er Jahre (Szemerédy und Parditka) und von heute sind Aufenweiden.
Die Riege der Solisten ist gut für so mache Überraschung
Einen Volltreffer landet Florian Ziemen mit dem Philharmonischen Orchester aus 30 Musikern, Banjo Sousaphon, „echte“ Jazzmusiker spielen Musik von damals. Wenn die Lovestory gefühlsbeladen wird, heizt er das Orchester an, die seicht-seligen Melodien mutieren zu jazzigen Rhythmen. Entdeckungen bei den Solisten : Mari-Louise Gutteck hat als Piroschka das Herz auf der Zunge und Volldampf-Komiker Rainer Hustedt (Bürgermeister) ist ein belebendes Element. Zigeuner Janczi (Tomi Wendt) spielt mit Herz und Können auf der Geige, seine Riquette ist in den Tanzbeinen und er lockeren Kehle bei Anna Gütter bestens aufgehoben. Calin Valentin Cozma (Diplomat John) singt würdevoll verzichtend auf die geliebte Viktoria, Dan Chamandy ist ein Hans-Dampf in allen Operetten-Gassen.
Maria Chulkova (Viktoria) verzaubert mit ihrer sinnlich-romantischen Stimme. Die ihres Husaren glänzt bei Hauke Möller in allen Lagen, sensibel geführt, klangschön, gefühlvoll.
Peter Merck, 20. November 2012, Wetzlarer Neue Zeitung