Krawall mit den Grimms - Gießener Allgemeine Zeitung

23.01.2013

Die Performancegruppe SKART zeigt im TiL »Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen« in einer schrillen und anarchischen Version.

In einer Familie von Angsthasen, Bedenkenträgern und Risikoabwägern wächst der Jüngste auf. Er selbst muss das Fürchten erst lernen. Windeln und Badelatschen trägt der eine, Strampelanzug und Propellermütze der andere. Hintern an Hintern tanzen sie zur elektronischen Musik aus den Boxen über das Parkett. Man merkt es nicht sofort, doch die Angst ist das große Thema an diesem Vormittag auf der TiL-Studiobühne.

Die Performancegruppe SKART (Schröppel Karau Art Repetition Technologies) zeigt das Märchen »Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen« für Zuschauer ab acht Jahren in einer anarchischen Version: mehr Deichkind als Gebrüder Grimm, mehr Krawall als Moral. Doch das Chaos auf der Bühne hat Methode: Nach ihrem Prinzip der Antipädagogik begeben sich Philipp Karau und Mark Schröppel, die sich in Gießen während des Studiums der Angewandten Theaterwissenschaften kennenlernten, mit den Kindern im Publikum in Komplizenschaft. Da darf ein Patient auf dem Zahnarztstuhl malträtiert, ein Laubmonster verdroschen und der Tod höchstpersönlich ausgelacht werden.

Die Geschichte ist schnell erzählt: In einer Familie von Angsthasen, Bedenkenträgern und Risikoabwägern wächst der Jüngste auf. Sein Beitrag zum Hausfrieden soll sein: die teure Vase nicht zu zerstören; nach dem Spielen die Hände zu waschen; Vitamine zu essen. Bald fragt er sich: Ist diese Furcht, die von den Erwachsenen mit solch einer Inbrunst exerziert wird, die er selbst aber noch nicht kennengelernt hat, vielleicht ein spannendes Hobby der Erwachsenen? So nimmt das Märchen »Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen« seinen Lauf. Doch der Zahnarzt kann den Jüngsten genauso wenig schocken wie das Laubmonster oder eben der Tod persönlich. SKART zeigen in einem collagierten Bild- und Textreigen, wie Kinder mit ihren Ängsten, wie auch immer die letztlich aussehen mögen, umgehen können: Aufstehen. Lachen. Weitergehen. Die Moral bis zu diesem Punkt: Angst ist, was du draus machst. Ein Laubmonster kann man fürchten. Man kann es aber auch als das entlarven, was es eigentlich ist: ein Komposthaufen. Die Furcht, jene in seiner Familie so verbreitete Form, lernt der Jüngste in diesem schrillen Bühnenchaos nicht kennen.

»Na, dann zieht mal in den Krieg«, spricht plötzlich eine verzerrte Stimme aus dem Off. Und alles kippt. Vorbei das fröhliche Deichkind-Theater mit den bunten Videos auf der Leinwand und den lustigen Jungs auf dem Parkett. Nun werden die Kinder aus dem Publikum zum gemeinsamen Marschieren und zum Präsentieren der Spielzeugpanzerfaust gerufen. Das lockere Pop-Art-Märchen verkehrt sich ins Gegenteil. Das Lachen erfriert zu einer Maske, auch wenn SKART nicht den Anspruch verfolgen, eine endgültige Botschaft vermitteln zu wollen.

Florian Dörr, 23.01.2013, Gießener Allgemeine Zeitung