Max vor seiner Einweisung - Frankfurter Rundschau

25.09.2012

Das Stadttheater Gießen schickt den „Freischütz“ in die Psychiatrie – plausible Wendung, schlecht vorbereitet

Ist Max schuldfähig? Der Mann im weißen Kittel will ihn für ein Jahr stationär behandeln, und das Mädchenschul-Massaker, das während des Freikugelgießens als Schwarz-Weiß-Film auf dem Gazevorhang zu sehen ist, war wohl eher eine Übersetzung von Webers apokalyptischer Wolfsschlucht-Musik in heutige Bilder. Es sieht nachmildernden Umständen aus. Die „Freischütz“-Inszenierung von Nigel Lowery, die die Opernsaison im Gießener Stadttheater eröffnet, gibt auf manche Fragen interessante Antworten, wirft aber zugleich neue auf. Lowery treibt der Romantik das volkstümelnde Biedermeier radikal aus. Die gezeichneten In- und Exterieurs auf dem Prospekt zitieren deutschen Expressionismus, die beherrschenden Farben sind Tarn- und Schlammfarben, Erbförster Kuno trägt Ranger-Kleidung mit Ray-Ban-Pilotensonnenbrille und betreibt ein Waffengeschäft, in dem Ännchen und seine Tochter Agathe arbeiten.

Der Chor der Brautjungfern tritt als Todesengel-Delegation auf, und der virile Jägerchor singt sein Stück vom männlichen Verlangen in einer Table-Dance-Bar. Die Welt des „Freischütz“ ist eine der unzähmbaren Männlichkeit, die Waffen als Ausdrucksmittel verwendet, wo die Stärkeren im Recht, die Frauen ängstlich und alle zusammen peinlich sind. Das ist eine klare Konfrontation gegen den common sense und wird daher vom Premierenpublikumauch kraftvoll bebuht.

Michael Hofstetter, der neue Gießener GMD (in den 90er-Jahren schon einmal in diesem Amt), lässt Webers Musik durchaus nicht in schwelgerische Fernsehförster-Sämigkeit abdriften. Sein Dirigat solidarisiert sich mit Lowerys Bilderwelt. Er duldet keine seidige Oberflächenwirkung, macht beharrliche Generalpausen, dehnt die Tempi, wagt ein Pianissimo an der Hörbarkeitsgrenze und gibt der Wolfsschlucht panisches Zittern. Die Musik steckt voller verunsichernder Zwischen- und Gegenwelten, die Verstörtheit der handelnden Personen klingt unmissverständlich aus dem Orchestergraben.

Agathe ist in diesem abgründigen Kontext kaum besser als mit Sarah Wegener zu besetzen gewesen, und Eric Laporte als Max trägt erheblich zu der erstaunlichen musikalischen Statur dieses „Freischütz“ bei. Die tiefgreifenden Veränderungen und Striche vor allem im dritten Akt tun dem keinen Abbruch. Dass Ottokar (Adrian Gans) allerdings von Anfang an agiert wie ein Verrückter aus einem Irrenhauswitz, deutet darauf hin, dass hier etwas nicht stimmt, und am Ende bekommen alle vom Weißkittel (dem Eremiten) ihre Medikamente. Diese Wendung wird zu wenig vorbereitet. Die Entstehungszeit des „Freischütz“ ist in der Tat auch die Entstehungszeit der modernen psychischen Erkrankungen und der Psychologie, und Kaspars Kriegspsychose wäre ein angemessener Inszenierungs-Aufhänger gewesen.
Aber diesem „Freischütz“ wird die Psychiatrisierung ihres Personals aufgepfropft wie ein Edelreis auf eine nicht vorbereitete Grundlage.

Hans-Jürgen Linke, 20. September 2012, Frankfurter Rundschau