Rekonstruierte 'Viktoria und ihr Husar' in Gießen - Klassik.com

21.11.2012

Ábrahám reloaded

Es ist schon ein Kreuz mit der historisch informierten Aufführungspraxis, ganz besonders, wenn es um Operetten geht. Da wird gern viel geredet, nach dem Motto: Merkt doch sowieso niemand, ob’s stimmt oder nicht, was wir dem Publikum erzählen. Aber es wird selten wirklich in Archiven nach historischem Material gesucht. Und noch seltener wird das Gefundene dann auch in klingende Tat umgesetzt, mit echter Leidenschaft und genialischem Funkeln.

Eine bemerkenswerte Ausnahme ist da der Dirigent Florian Ziemen, der sich mit Gusto aufs Genre Jazzoperette der 1920er Jahre gestürzt und bewiesen hat, dass er für die ganz eigene Klangwelt der Roaring Twenties ein glückliches Händchen hat. Mehr noch, er hatte sich bei seinem ersten Ausflug in Operettenregionen sogar die originale Partitur besorgt und aus dem fotokopierten Autograf dirigiert, um die höchst individuellen Klangvorstellungen des Komponisten umsetzen zu können - was auf eindrucksvolle Weise gelang. Den Auftakt machte am Bremer Theater Künneckes 'Vetter aus Dingsda' (1921), es folgte ebendort Lehárs 'Land des Lächelns' (1929), und nun, als neuer stellvertretender GMD in Gießen, hat sich Ziemen auf Paul Ábrahám und dessen ersten Welterfolg 'Viktoria und ihr Husar' (1930) gestürzt. Er kündigte als erste Premiere an seinem neuen Haus an: die Erstaufführung der bühnenpraktischen Rekonstruktion des Stücks!

Twenties-Ekstase

An Ábrahám hatten sich zuletzt ja schon mehrere Institutionen versucht. Nach einer Rekonstruktion der Staatsoperette Dresden ('Viktoria'), die eher nach Ufa-Film der 1940er klang als nach Berlin 1930, machte sich der WDR mit einer konzertanten Ábrahám-Reihe ans Werk und beauftragte das Duo Henning Hagedorn und Matthias Grimminger, auf Basis von historischen Klavierauszügen und erhaltenen Tondokumenten eine neue eigene Partitur zu erstellen, die dem eklektischen und wirbelwindartigen Ábrahám-Stil gerecht wird – die Originalpartitur gilt als verschollen. Nimmt man die Live-Übertragungen des WDR als Beurteilungsgrundlage, muss man sagen, dass Hagedorn/Grimminger zwar einige der Special Effects Ábraháms wiederhergestellt haben, aber ansonsten wenig Einfühlungsvermögen für diese besondere und besonders gut dokumentierte Form der Operette beweisen konnten, was durch die geradezu abenteuerlich stillose Wiedergabe durch die Standardkräfte des WDR noch negativ verstärkt wurde. Statt Twenties-Ekstase hörte man eine Partykeller-Schlagzeugorgie (mit Besen und Becken), wie sie auf keiner einzigen historischen Ábrahám-Aufnahme zu erleben ist. Dennoch gelten Hagedorn und Grimminger seither in Deutschland als Experten für diese Art von Rekonstruktionen und beschäftigten sich später auch mit dem 'Weißen Rössl', Version 1930, die aktuell vielerorts gespielt wird.
Dirigent Florian Ziemen konnte nach viel Überzeugungsarbeit den Verlag überreden, ihm das WDR-Material in einer nochmals überarbeiteten und vervollständigten Form für Gießen zu überlassen, statt der gängigen 1950er-Jahre-Neuinstrumentierung, die sonst im Umlauf ist und mit der man ihn zuerst abspeisen wollte. Ziemen hat in der Vorbereitungsphase selbst nochmals an der Partitur gearbeitet, unter anderem das Partykeller-Schlagzeug entfernt, so dass das Ganze historischen Usancen wenigstens halbwegs entspricht. Und siehe da: Aus dem Gießener Orchestergraben rauschte am Samstagabend schon im f-Moll-Vorspiel ein Sound hervor, der sich weitestmöglich von der Kölner Version unterscheidet. Da Ziemen auch sonst die Partitur viel aggressiver ausmusiziert, die Musik mit deutlich mehr Akzenten versieht und Freunde an den wilden improvisatorischen Momenten hat, ist seine Wiedergabe mit dem um einige Jazzmusiker aus Frankfurt angereicherten Philharmonischen Orchester Gießen eine echte Neuentdeckung der Partitur. Und: In vielen Fällen sind die fast strichlos gespielten Tanzsequenzen mit Xylophon und Banjos, zwei Klavieren und Saxophonen eine Freude. Da fegt das Orchester mit einer Lust dahin, die jede Reise in die hessische Provinz lohnend macht.
Leider kann diese geballte Ladung Musikzierfreude nur begrenzt darüber hinwegtäuschen, dass die Partitur in dieser "bühnenpraktischen Rekonstruktion" trotzdem eine ist, die nur eingeschränkt überzeugen kann. Ihr fehlt, zumindest in meinen Ohren, die Selbstverständlichkeit im Sound, die Ábrahám in seinen eigenen erhaltenen Aufnahmen demonstriert, die sinnliche Grundierung, teils auch der schwärmerische (oder besser: verführerische) Farbenreichtum, sieht man von den erwähnten Spezialeffekten ab. Im Grunde hätte jeder professionelle Instrumentator vom Broadway solch ein 1920er-Jahre-Arrangement besser und moderner und vermutlich brillanter hinbekommen – man denke nur an legendäre "Rekonstruktionen" wie die von 'No, No Nannette' in den 1970ern, 'Anything Goes' in den 1990ern oder aktuell das neue Gershwin-Musical am Broadway. Da kann man all das hören, was die im Vergleich eher "braven" Rekonstrukteure Hagedorn/Grimminger nicht hinbekommen, nämlich witzige und selbstverständliche Bravour, die Ábrahám ursprünglich immer hatte.

Marilyn-Monroe-Kostüme

Darüber hätte man als angereister Operettenfan am Stadttheater Gießen natürlich mühelos hinwegsehen und -hören können, wenn der Rest der Produktion genauso wirbelwindartig gewesen wäre wie das Dirigat. Aber ein wirbelwindartiges Temperament kann man den Solisten des Abends nicht attestieren. Die Russin Maria Chulkova tritt im pinken Marilyn-Monroe-Kostüm auf – direkt aus "Blondinen bevorzugt" –, füllt die Rolle der "Diamonds are a girls best friend"-Sexbombe aber nicht aus. Wodurch die schönen Kostümierungen, die das Regie- und Ausstattungsteam Alexandra Szemerédy und Magdalona Parditka ersonnen haben, schnell lächerlich wirken. Die Frau, nach der sich die Männer der Handlung verzehren und für die sie sich einmal um die halbe Welt bewegen (von Sibirien nach Japan, von St. Petersburg nach Ungarn), ist die schüchterne Chulkova kaum glaubhaft. Da auch der attraktive Hauke Möller als blonder Husar Stefan Koltay blass bleibt, findet die zentrale Liebesgeschichte, die alles zusammenhalten muss, nicht statt. Auch nicht die bewegende Verzichtsnummer von US-Botschafter John Cunlight, der Viktoria freigibt, als er merkt, dass sie einen anderen liebt. Der Bariton Calin-Valentin Cozma ist da sicher kein Darsteller, der die melodramatische Story ergreifend vermittelt, gleichwohl er sehr schön den Slow Waltz 'Pardon, Madame' singt. Aber nicht so, dass man davon weiche Knie bekommt.

Szenisch besser machen sich die Buffos. Mich überzeugte am meisten Naroa Intxausti als O Lia San (deren Auftrittslied 'Ping Pong' wirklich herrlich schrill war). Optisch erstklassig, stimmlich allerdings nicht ganz glücklich in der Tessitura war Anna Gütter als Riquette. Beide, zusammen mit ihren Partnern Tomi Wendt als Janczi und Dan Chamandy als Ferry, wurden jedoch von der Regie so arg unterfordert, dass jegliche Beziehungsgeschichte zwischen den Paaren uninteressant wurde. Zum Schluss knutschte eh jeder mit jedem in dieser Produktion, so dass die Rollen sich aufzulösen schienen.

Memorable Tanzmomente

Ja, die Regie der jungen Damen Szemerédy und Parditka: Die Idee, eine glamouröse Welt der 1930er Jahre zu zeigen, die erst als Eskapismus für arme Landbewohner in Ungarn dient (erster Akt), von diesen im Faschismus als "entartet" bekämpft wird (zweiter Akt) und dann einfach in einen tristen, aber stramm nationalen Sozialismus/Kommunismus einverleibt wird (dritter Akt), ist durchaus interessant. Da aber die Umsetzung der Idee und die Personenregie dürftig sind, funktionierte das Ganze für mich nicht. Trotz der schönen Bühnenbilder, die aus Weltkartenmotiven bestanden.

Schlimmer noch: Das Regieteam hatte sich keinen einfallsreichen Choreographen geholt, der die vielen Tanznummern als eigenständig tragendes Element des Abends in Szene gesetzt hätte. Und eine revuehafte Jazzoperette der 1920er Jahre ohne memorable Tanzmomente ist bedauerlich! Vielleicht ist es doch nicht die beste Qualifikation, eine halb-ungarische Operette zu inszenieren, weil man selbst ungarisch ist und in Budapest einen 'Tristan' und einen 'Parsifal' gemacht hat?

Was bleibt, ist der bemerkenswerte Versuch, Ábrahám im neuen Millennium eine Klanggestalt zurückzugeben, die den einstigen Erfolg seiner Werke verständlich macht. Das ist in dieser rekonstruierten Version nicht restlos geglückt - was mehr an der Besetzung und Regie gelegen haben mag als am Orchester, aber das lässt sich im Gesamtkontext schwer sagen. Man darf jedenfalls gespannt sein, wie es weitergeht. Ziemen widmet sich demnächst in Karlsruhe nochmals dem 'Vetter' und Künneckes 'Batavia Foxtrott'-Rhythmen, die Komische Oper wird Ábraháms 'Ball im Savoy' spielen, ebenfalls in einer Hagedorn/Grimminger-Rekonstruktion, die bereits beim WDR getestet worden war, mit ähnlichem Erfolg wie die 'Viktoria'. Am Pult steht in Berlin Adam Benzwi, auch er jemand, der sich ernsthaft mit historisch informierter Aufführungspraxis auseinandersetzt. Ein vergleichender Blick auf die Alte-Musik-Szene zeigt, dass man dort auch nicht über Nacht bei den grandiosen Interpretationen angekommen ist, die für uns heute selbstverständlich sind. Vielleicht braucht die Operette einfach noch ein bisschen Zeit – und mehr Pioniere wie Florian Ziemen?

Dr. Kevin Clarke, November 2012, Klassik.com