Sinfoniekonzert im Stadttheater voller Emotionen - Gießener Allgemeine

08.11.2012

Klares Klangbild: Beim Sinfoniekonzert im Stadttheater präsentierte Generalmusikdirektor Michael Hofstetter Werke von Vivaldi und Mendelssohn Bartholdy.

Vivaldis barocke Kunst trifft auf die frühromantische Erzählweise eines Mendelssohn Bartholdy – ein nicht nur durch die Pause zweigeteiltes Sinfoniekonzert erlebten die Besucher des Stadttheaters am Dienstagabend. Generalmusikdirektor Michael Hof-stetter bot als Experte für authentische Aufführungspraxis im ersten Durchgang drei Concerti grossi. Musiziert wurde vor dem heruntergelassenen eisernen Vorhang und korrekt im Stehen. Das führte zu einem Sound voller Nähe und Emotion. Im zweiten Teil bot Felix Mendelssohn Bartholdys Sinfonie Nummer 4 A-Dur op. 90 vom neuen »Konzertzimmer« aus ein distanzierteres Klangerlebnis.

Als Auftaktsolist sorgte Jan Nigges für eine Premiere: Der 18-jährige Student der Frankfurter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst spielt Blockflöte. Er präsentierte mit Orchesterunterstützung den 2. und 3. Satz aus dem Vivaldi-Konzert C-Dur RV 443. Der Beginn stand im Zeichen einer somnambulen Orchesterbegleitung und eines nicht immer punktgenau spielenden Solisten, während der schnelle Satz mit Feuer über die Bühne ging.

Bei den drei Concerti grossi Antonio Vivaldis demonstrierte das gut 20-köpfige Ensemble in der üblichen Dreisätzigkeit dieser kleinen Kunstform veritablen Esprit. Beim ersten Konzert in d-Moll op. 3, Nr. 11 agierten die Violinisten Helena Wood und Rüdiger Lotter sowie Cellist Felix Koch, Professor für Alte Musik und Barock-Cello in Mainz, als Solisten. Die direkte Ansprache und konzertante Würde überzeugten ebenso wie in den beiden anderen Stücken, jenem in g-Moll RV 531 mit Koch und Stadttheatermusiker Torsten Oehler am Solo-Cello – dem Höhepunkt des Vivaldi-Teils – und jenem in h-Moll op. 3, Nr. 10 mit den vier Solo-Geigern Wood, Lotter, Ivan Krastev und Igor Tsinman (beide vom Gießener Orchester).

Nach so viel barocker Anmut galt es, im zweiten Abschnitt umzudenken. Mendelssohn Bartholdys frühromantische Sinfonie, die vom Meister den Untertitel »Die Italienische« erhalten hat, besticht durch ihren Melodienreichtum und ihre feine Abstufung der dynamischen Elemente.

Das allseits beliebte erste Thema des Kopfsatzes zauberte dem Zuhörer ein wissendes Lächeln ins Gesicht und legte die Fährte für Wohlklang.

Mendelssohn Bartholdy, das früh vollendete Genie, dessen Werke unter Hitler verboten waren, erlebt seit Jahren eine längst überfällige Renaissance. Seine 4. Sinfonie, die der gebürtige Hamburger mit Anfang 20 komponierte, steht den Werken berühmterer Kollegen in nichts nach.

Formal nutzte der junge Tondichter die klassischen Vorlagen, erweiterte sie aber beispielsweise im ersten Satz zu seinen Gunsten um ein drittes Thema, das in der Durchführung zum Tragen kommt, während er der Reprise als Coda eine zweite Durchführung anhängt.

Um es einfacher zu sagen: Es macht Laune, dieser munteren Variation des Sujets zu folgen, die es erlaubt, immer wieder neue Höhepunkte zu erklimmen.

Hofstetter führte das in den Bläserstimmen doppelt besetzte Ensemble, das im Gegensatz zum ersten Sinfoniekonzert der Saison wieder in der alten Sitzordnung Platz genommen hatte, mit konsequenter Hand. Ihm gelang es, die Details dieser betörenden Musik einfühlsam und mit Elan herauszuarbeiten. Der Dirigent schuf neuerlich ein klares Klangbild, ohne auf Legatobögen zu verzichten. Die Diminuendo- und Crescendo-Passagen zeugten von der Liebe zum Werk.

Das Orchester agierte mit Verve. Die Streicher, ergänzt um die Solisten aus dem ersten Teil des Abends, zeigten eine glanzvolle Leistung. Die beiden langsamen Mittelsätze kommen ohne südländisches Kolorit aus – es schadet der Sinfonie nicht. Die Hörner gewähren Einblick in den deutschen Wald, den Mendelssohn Bartholdy ohnehin lieber mochte als alle italienischen Zypressen und Lorbeerzweige zusammen.

Die Musiker interpretierten intensiv, vergaßen aber nicht den Druck aufs Gaspedal, wenn im abschließenden Prestissimo die Post abgeht. Weiter so!

Manfred Merz, 08.11.2012, Gießener Allgemeine