Viel Applaus im Stadttheater für die Oper »Kommilitonen!« - Gießener Allgemeine Zeitung

07.05.2013

Freiheit um jeden Preis: Das Stadttheater zeigt die zeitgenössische Oper »Kommilitonen!« von Peter Maxwell Davies als deutsche Erstaufführung.
 
»Nieder mit Hitler«: Maria Chulkova als Sophie Scholl und Tomi Wendt als ihr Bruder Hans kämpfen Arm in Arm für die Freiheit. Hitler, Mao, Rassenhass. Diktatur und Düsternis bevölkern am Sonntagabend die Bühne des Stadttheaters zur deutschen Erstaufführung der aktuellen Oper von Peter Maxwell Davies mit dem Titel »Kommilitonen!«. Es geht um das tragische Los von Heranwachsenden und Studenten zwischen den Mühlsteinen der politischen Macht. Das Stadttheater hat dafür in Zusammenarbeit mit der Hessischen Theaterakademie eine Mammutproduktion gestemmt. Selten zuvor bevölkerten Personen derart zahlreich die Drehbühne des nicht ganz ausverkauften Großen Hauses. Am Ende gibt es langen Applaus und Bravorufe.

Für die Inszenierung des 90-minütigen Werks zeichnet Intendantin Cathérine Miville verantwortlich, Generalmusikdirektor Michael Hofstetter führt das Philharmonische Orchester Gießen. Neben den Rollen sämtlicher Ensemblemitglieder singen Studierende der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt 22 Solopartien – Davies schrieb die Oper eigens für Studierende.

Auf und hinter der Bühne spielen zusätzlich eine Marchingband, ein Jazz-Trio und eine Brassband. Der Chor und Teile des Extrachors des Stadttheaters sowie sein Kinder- und Jugendchor sind mit von der Partie.

Klasse mit Cluster

Musikalisch bleibt das Stück lange Zeit indifferent. Kenner werden sich an den vielen Stilzitaten laben, womöglich erfreut auch die lautstark durchs Bild ziehende Band das eine oder andere Gemüt; alle andern warten auf den Cluster im Schlussdrittel des ersten Akts, der in eine homogene Chorszene führt – der kompositorisch stärkste Teil des Abends. Diese Klasse kann Davies nach der Pause im zweiten Akt weitgehend beibehalten, was den Durchgang zu einem intensiven Hörerlebnis werden lässt. Ein Höhepunkt: das mit flirrendem Klavier aufspielende Jazz-Trio. Das Finale dann ist große Oper.

Die Crux am modernen Werk sind die wie immer fehlenden Kantilenen. Klimmzüge unternimmt ein Komponist, um bloß keine Melodie zu erfinden. Das macht dem Rezipienten die Sache nicht leicht. Genau genommen soll sie das auch nicht sein: leicht.

Protagonist Meredith plagt sich mit Auf- und Abschwüngen und mit gekünstelten Phrasen, die niemand so singen würde, ganz gleich wie aufgewühlt er sein mag. In den Chorszenen, in denen ein nachvollziehbares mehrstimmiges Gefüge auftaucht, geht Davies freundlicher mit den Sängern um; er gönnt ihnen Reibeklänge und starke Rhythmen. Auch die selten gespielte chinesische Erhu wird gewürdigt.

Miville hat die Oper mit Facettenreichtum und optischen Zwischentönen inszeniert. Das von Lukas Noll geschaffene Bühnenbild verfügt über finsteren Charakter. Die nach vorn geneigte graue Endzeitwand im Bühnenhintergrund mit ihren Spiegelkassetten und den aufgemalten Lauf- und Parolenleuchtschriften (»Freiheit«, »Nieder mit Hitler«) darf als kongenialer Einfall gewertet werden, weil sie der Szenerie nicht nur als graues Mäntelchen dient, sondern gleichsam die teils wie zerrüttet wirkende Musik visualisiert. Das superbe Licht von Christopher Moos tut sein Übriges.

Miville stapelt Europaletten aufeinander, lässt Flugblätter fliegen und Schreibmaschinen im Takt der Musik klackern. Kleinigkeiten machen den Reiz der Inszenierung aus wie das grüne Tuch als Billardtisch, das mit einem Handstreich in ein Reisfeld verwandelt wird. Puppenspiel im Großformat und ein bühnenhoher roter Mao runden den Reigen der bunten Einfälle ab.

Eindringlich gelingen der Regisseurin die Passagen der »Weißen Rose«. Herbert Gietzen – neben Hofstetter mit der musikalischen Leitung der Oper betraut – hat den »Weißen Rose«-Text ins Deutsche übertragen, weshalb neben Englisch auch Chinesisch (das geht ebenfalls auf Kosten des Hauses) und ein wenig Latein sowie Deutsch gesungen wird. Librettist David Pountney, bis 2014 Intendant der Bregenzer Festspiele, ist am Sonntag Ehrengast. Er gab im Vorfeld Tipps zur Übersetzung. Im Gespräch mit dieser Zeitung sagt er, dass es sich seit 1996 um die dritte Zusammenarbeit mit Davies handele – und wohl auch um die letzte. Der 79-jährige Komponist habe keine Lust mehr, noch eine weitere Oper zu schaffen. Zu »Kommilitonen« musste er schon überredet werden.

Pountney hat das Libretto in einem Monat niedergeschrieben. »Aber die Recherche dauerte viel, viel länger.« Drei Handlungsstränge seien ihm sinnvoller erschienen als nur zwei, sagt er – damit es auf der Bühne nicht zu einer Pendelbewegung von A nach B und zurück kommt. »So ist die Variabilität größer«, betont der Librettist, der bei der Uraufführung in London 2011 als Regisseur fungierte. Das Ineinanderverweben der drei Handlungsstränge zu einer Art Inhaltszopf jedoch gelingt auf der Gießener Bühne nur bedingt. Auch das ist der Musik geschuldet, die nicht geduldig einen Spannungsbogen aufbauen will. Selbst das Zopfmotiv, die Fuge, wird nur ein einziges Mal vom Chor aufgegriffen.

Optisch sind die Handlungsfäden durch die Kostüme von Bernhard Niechotz gut voneinander getrennt, auch wenn militärische Grautöne überwiegen. Fast alle Protagonisten ziehen sich bis zu fünfmal um in dieser Aufführung.

Die Sänger leisten durch die Bank weg vorbildliche Arbeit. Adrian Gans besticht mit seinem Part als Meredith gesanglich und mimisch ebenso wie Maria Chulkova als Sophie Scholl und Tomi Wendt als ihr Bruder Hans. Calin-Valentin Cozma ist als Großinquisitor erste Wahl. Der Chor des Stadttheaters (Einstudierung: Jan Hoffmann) setzt wieder einmal Maßstäbe und bürgt neben den Musikern für Qualität.

Unter Hofstetters souveräner Führung meistert das Philharmonische Orchester das komplizierte Werk mit Chuzpe. Alles klingt frisch und sauber, die Tempi schießen nur so aus dem Graben, das ständige Lautstärkeauf- und -abgedrehe in der Partitur erledigen die Musiker mit leichter Hand. Die kleine Trommel mogelt sich hin und wieder in den Vordergrund, ansonsten befindet sich die Komposition bei den Gießenern in bester Obhut.

»Kommilitonen« ist in der Regie von Miville zu einem vielschichtigen Werk erwachsrn, das sich des schwierigen Themas eindringlich annimmt. Die Intendantin will mit dem Stück junge Menschen mobilisieren, in die Oper zu gehen. Es möge ihr gelingen! Allzu viele alte Hasen wird der sperrige Davies-Sound nicht in den Musentempel locken.

Manfred Merz, 07.05.2013, Gießener Allgemeine Zeitung