„Viktoria und ihr Husar“ fetzt in Gießen - musical-co.de

21.11.2012

Die Operette „Viktoria und ihr Husar“ und war 1930 in Leipzig und Berlin ein Sensationserfolg.

Man glaubt gar nicht, wie schwer das ist – den Sound der 1920er Jahre heute wiederherzustellen. Okay, Max Raabe und sein Palastorchester schaffen das fast jeden Abend, aber die sind auch darauf spezialisiert. Große Orchester in Stadt- und Staatstheatern tun sich da schon sehr viel schwerer, denn sie sind es gewohnt „Klassik“ zu spielen: ernst und tiefgründig. Plötzlich wild loszuswingen ist ihre Sache meistens nicht.

Von Nazis verbannt und zerstört

Trotzdem hat am Wochenende der junge Dirigent Florian Ziemen versucht, mit dem Philharmonischen Orchester Gießen – in Hessen – eine Operette von Paul Abraham wiederzubeleben, in der ursprünglichen Klanggestalt. Das Stück heißt „Viktoria und ihr Husar“ und war 1930 in Leipzig und Berlin ein Sensationserfolg. Auch wegen der neuartigen Jazz-Klänge aus dem Orchestergraben. Die Originalpartitur ist heute verschollen, weil die Nazis das Stück wegen der jüdischen Autoren nach 1933 von deutschen Bühnen verbannt und alles Material dazu vernichtet hatten. Man spielte also nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue Version, im Schmusesound der Ära.

Florian Ziemen griff nun für die Neuproduktion in Gießen auf eine Rekonstruktion des Originals zurück, die die beiden Musiker Henning Hagedorn und Matthias Grimminger erstellt haben – mit wildgewordenen Xylophonen, zwei Klavieren und tollen Saxophonklängen. Das macht Spaß zu hören, weil es viel mehr fetzt als die 50er-Jahre-Fassung, die man sonst hört. Auf dem Niveau von Max Raabe kommt das Ganze zwar nur ab und zu an – aber man muss ja irgendwo mal anfangen, um sich dann steigern zu können.

Versuch der Wiederherstellung – im Orchestergraben geglückt
Dass sich überhaupt jemand die Mühe einer solchen Operettenrekonstruktion macht, ist schon bemerkenswert genug, finde ich. Und zukunftsweisend. (Da könnten in Zukunft viele Jobs für Nachwuchsmusiker entstehen. Denn zu Rekonstruieren gäbe es einiges.)

Die Inszenierung der „Viktoria“ übernahmen in Gießen zwei junge Frauen, die gerade als Regisseurinnen ihre Karriere starten (und immer als Team arbeiten): Alexandra Szemerédy und Magdolna Parditka. Von ihnen stammen auch die sehr bunten und schrillen Kostüme. Sie erzählen die Geschichte mit viel Witz, einem Schweine- und Gulaschsuppenballett und mit Mut zur Darstellung der politischen Hintergründe.

Leider haben die beiden sich keinen richtig guten Choreographen geholt, der im Broadway-Stil für rasante Tanznummern gesorgt hätte. Das ist schade, denn aus dem Orchestergraben hört man mitreißende Tanzklänge. Statt musicaltauglicher Sequenzen hüpfen Chor und Ballett nur reichlich unkoordiniert umher. Was echt schade ist! (Ich mag gute Tanznummern nämlich sehr.)

Aber trotzdem: Die Produktion in Gießen zeigt, dass sich eine neue Generation von Interpreten an die Operette wagt und sich da mit eigenen Ideen einbringt, die in Zukunft hoffentlich für einen neuen und frischen Umgang mit der Kunstform stehen werden. Also, weiter so!

Kurzinhalt:

Der aus russischer Gefangenschaft geflohene Husarenrittmeister Stefan Koltay sucht Schutz bei der amerikanischen Gesandtschaft in Tokio. Ausgerechnet hier trifft er seine alte Jugendliebe Viktoria wieder, die jetzt allerdings mit dem Diplomaten John Cunlight verheiratet ist. Gemeinsam erinnern sie sich an den gegenseitigen Treueschwur, den sie sich einst gegeben haben. Doch die Ereignisse überschlagen sich: Stefan liefert sich freiwillig den Russen aus, John muss erkennen, dass die Liebe seiner Frau nicht ihm gehört, und Viktoria macht sich auf, um im heimatlichen Ungarn ein bisschen Glück zu finden.

Kevin Clarke, 19.11.2012, www.musical-co.net