„Viktoria und ihr Husar“ mit großem Jubel aufgenommen - Gießener Anzeiger

19.11.2012

Urfassung von Paul Abrahams Operette „Viktoria und ihr Husar“ im Gießener Stadttheater mit großem Jubel aufgenommen


Ein rot-weißer Schlagbaum mit Wachhäuschen trennt die Bühne. Links hat eine Gruppe Soldaten Aufstellung genommen - Gewehr im Anschlag. Es ist düster, und von oben rieselt Schnee auf sie herab. Rechts im Reich von Uncle Sam ist alles hell. Hier geht es laut und fröhlich zu, „Stars and stripes“ allüberall. Cowboys, muntere Ballettmädchen und Strandurlauber tanzen ausgelassen einen Charleston. Und wenn der als Cowboy verkleidete Tenor Dan Charmandy schließlich mit so viel Charme den Slowfox „Mausi, süß warst du heute Nacht“ singt und ihn dabei Tänzerinnen mit süßen Früchten auf ihren Köpfen umschwirren, spätestens da bricht Ohrwurmalarm aus. Und der hält in der neuesten Produktion des Gießener Stadttheaters über drei Stunden an.

Längst hat da auch die Weltkarte im Hintergrund und an den Seiten der Bühne den Zuschauern verraten, dass wir uns mitten im Kalten Krieg befinden. In die Hochzeit des politisch-militärischen Kräftemessens zwischen Ost und West haben die beiden ungarischstämmigen Regisseurinnen Alexandra Szermerédy und Magdolna Parditka die 1931 uraufgeführte Operette „Viktoria und ihr Husar“ des Ungarn Paul Abraham verlegt. Die beiden jungen Damen führen aber nicht nur Regie, sondern zeichnen auch für die Ausstattung und Kostüme verantwortlich. In geradezu verschwenderischer Fülle fluten sie die Bühne mit ihren Einfällen, und der bunte, schrille Reigen scheint kein Ende nehmen zu wollen. Eine verrückte Idee bringt die nächste hervor. Die Kostümschneiderinnen müssen sich in den letzten Tagen die Finger wund genäht haben, soviel fantasievolle Kostüme kommen immer wieder aufs Neue zum Vorschein. Zeitweise herrscht ein derart dichtes Gewusel aus Chorsängerinnen und -sängern (Leitung: Jan Hoffmann), Statisten, Tänzerinnen und Darsteller, dass man gar nicht mehr weiß, wo man hinschauen soll.

Jazz in allen Winkeln

Daraus ist zu ersehen, dass dem Stadttheater keine Anstrengung zu groß war, um Paul Abrahams sensationellen Berliner Bühnenerfolg von einst wiederzubeleben. Es handelt sich sogar um eine Uraufführung, denn man bekommt die von den beiden Operettenexperten Hennig Hagedorn und Matthias Grimminger rekonstruierte Urfassung des Werks zu sehen. Und Alexandra Szermerédy und Magdolna Parditka sowie der stellvertretende Generalmusikdirektor Florian Ziemen am Dirigentenpult lassen das Publikum mit vereinten Kräften keinen Augenblick im Unklaren, dass diese Urfassung sehr viel mehr Ironie, Witz, Vitalität und musikalische Radikalität enthält als die verfälschenden Adaptionen der 50er und 60er Jahre. Es pulst, swingt und jazzt in allen Winkeln. Doch Vorsicht, heile Operettenwelt ist nicht immer zu erwarten: Die Musik und das Geschehen auf der Bühne ergeben oft harte Kontraste.

Während eine Geige im Orchestergraben glutvoll schmachtet, werden im Vorspiel Gefangene von Wachmannschaften geschlagen, misshandelt und hingerichtet. Während Viktoria, die Frau des amerikanischen Gesandten in Tokio, als blonde Marilyn-Monroe-Kopie die Revuetreppe herabsteigt, ist die Toilettenspülung in der engen, miefigen Spießerwohnung von Piroska (Marie-Louise Gutteck) und Béla Pörkölty (Rainer Hustedt) laut zu hören. Ansonsten reizen die Regisseurinnen die Möglichkeiten einer Revue bis zum Äußersten aus, um mit Klischees über Ungarn zu spielen. Und wie bei einem Gulasch landet in ihrer Inszenierung alles in einem großen Topf. Die Tanzcompagnie (Leitung: Tarek Assam, Anthony Taylor) legt eine wilde Nummer zu „Meine Mama war aus Yokohama“ hin, sexy Ping-Pong-Mädels mit Tischtennisbällen im Haar tummeln sich an der grünen Platte, O Lia San (Naroa Intxausti) begibt sich in King Kongs Riesenhand, Schweine mit rot-weiß-grünen Bändern ziehen vorbei, und schließlich steht auch ein großer dampfender Gulaschtopf auf der Bühne, dem etliche, riesige, phallische Salamis entnommen werden und dem dann auch noch Dan Charmandy als Geisha und Naroa Intxausti als bonbonfarbener Zirkusdirektor entsteigen.

Florian Ziemen und das Philharmonische Orchester lassen Abrahams Melodienreichtum in seiner ganzen farbigen, reizvollen Instrumentation erblühen. In die russischen, japanischen und ungarischen Stimmungsbilder mit viel Zeitkolorit mischen sich, erfrischend und vital, immer Jazz und Swing der 30er Jahre. Das Orchester musiziert dann wie eine Jazzkapelle im Bigbandsound mit immens viel Drivvvve! Aber natürlich können sich die Musiker auch versiert auf sentimentalem Terrain. Wie sonst könnte die herausragende Maria Chulkova als Viktoria sonst die Gemüter rühren? Mit einer Stimme so golden wie ihr langes Kleid singt die den Ohrwurm „Reich mir zum Abschied noch einmal die Hände“ mit einer solchen Anmut und Wahrhaftigkeit, dass ihr die Herzen zufliegen. In Hauke Möller als Stefan Koltay hat sie den idealen Partner, denn auch er verfügt über strahlenden Schmelz, Gefühl und Charme. Calin-Valentin Cozma als amerikanischer Gesandter John Cunlight und Tomi Wendt als Zigeunerprimas Janczi stellen eindrucksvoll unter Beweis, dass sie nicht nur Sänger und Darsteller, sondern auch als Geiger immer den richtigen Ton treffen. Anna Gütter geizt als Riquette nicht mit ihren Reizen und zeigt, dass sie sich ihrer erotischen Anziehungskraft auf Männer, jederzeit sicher sein kann.

Buh-Rufe für Regie

Bei der Premiere am Samstag wurden vor allem die Sänger und das Orchester vom Publikum im voll besetzten Stadttheater frenetisch gefeiert. Als die beiden Regisseurinnen auf die Bühne traten, mischen sich die Jubelstürme auch einige Buh-Rufe.

Thomas Schmitz-Albohn,  19. November 2012, Gießener Anzeiger