Zwischen Schein und Realität - Wetzlarer Neue Zeitung

29.11.2011

Zwischen Schein und Realität
Erfolgsmusical "Cabaret" hat am Stadttheater Gießen Premiere

"Das Leben ist ein Cabaret" singt die wunderbare Sophie Berner als Revuestar Sally Bowles. Dass diese Leichtfertigkeit in der Silvesternacht 1929/1930 ein fataler Irrtum war, wird sich wenig später zeigen. Gleichwohl ist es John Cander und Fred Ebb 1966 gelungen, aus dem ernsten Stoff ein unterhaltsames Musical zu machen. Die Inszenierung von Intendantin Catherine Miville am Stadttheater Gießen hat die turbulenten Geschichten um den "Kit-Kat-Club" mit eigener Handschrift versehen und kann mit Aufführungen großer Häuser mithalten. So sah es auch das Publikum: Minutenlanger Applaus belohnte am Samstag nach der Premiere die Akteure aus den drei Sparten des Hauses.

Das Leben ist wie ein Spiel, in dem sich alles dreht, wie auch das Karussell als zentrales Bühnenbild symbolisiert, das sich auf den zweiten Blick als große Showtreppe ganz im Stil der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts erweist.

"Willkommen, Bienvenue, Welcome" singt der Conferencier (grandios: Andrea Matthias Pagani) zur Begrüßung und hat bereits damit das Publikum hinter sich. Eine wundervolle, kräftige Stimme mit Ausdruckskraft, dazu eine gehörige Portion Charme und tänzerisches Talent: Genau so hat man sich den Mann, der in einem Vergnügungsetablissement durchs Programm führt, immer vorgestellt.

Die Szenerie wirkt echt und belebend: Tische mit illustren Gästen, die "Kit-Kat-Girls" tanzen in knappen Kostümchen ihre Revue-Nummern, das Philharmonische Orchester, verstärkt durch vier Gastbläser aus Mainz, sorgt für den passenden Sound und Drive.

Auch sonst haben Bühnenbildner Matthias Möbius und die Choreografen Tarek Assam und Anthony Taylor alles dafür getan, uns in das ausgelassene Leben der frühen 30er Jahre eintauchen zu lassen.

Hinter dieser vergnüglichen Maske zeigt sich bald ein anderes Deutschland. Der Nationalsozialismus erwacht und macht vor persönlichen Bindungen nicht halt. So scheitert die Liebe zwischen Sally und dem amerikanischen Schriftsteller Clifford ebenso an der politischen Wirklichkeit wie die zwischen Zimmerwirtin Fräulein Schneider und dem jüdischen Obsthändler Schultz.

Akteure aus allen drei Sparten des Hauses wirken mit

Die Glanzrolle in dem wilden Spiel zwischen Schein und Realität gehört Sophie Berner als Sängerin Sally Brown. Natürlich: Jeder kennt sie, die berühmten Vorgängerinnen Liza Minelli und Ute Lemper; doch der Star der Gießener Inszenierung braucht sich vor diesen Größen nicht zu verstecken.

Das tut Sophie Berner auch keinesfalls: Mit erfrischender Lebendigkeit, herausragender Stimme (die sich auch gegen das Bläserensemble durchsetzen kann) und tänzerischer Leichtigkeit scheint sie über die Stufen der Bühne hinwegzuschweben und verzaubert nicht nur die Besucher im legendären Club, sondern auch das Publikum im Theater. Viel Applaus gab es auch für ihren Liebhaber Clifford, mit Sympathie und Glaubwürdigkeit von Pascal Thomas gespielt.

Auch das zweite Liebespaar kann sich über viel Beifall freuen: Petra Soltau und Harald Pfeiffer ergänzen sich trefflich und sind als Fräulein Schneider und Herr Schultz in wahren Paraderollen zu erleben.

Auch ihr Freund Ernst Ludwig (Lukas Goldbach), der sich als Nazi entpuppt, spielt mit Überzeugung. Die Mentalität jener Jahre lebt auch Fräulein Kost vor (Marie Louise Gutteck), die sich die Matrosen dutzendweise ins Zimmer holt.

Der Melodienreichtum ist zweifellos - neben der immer noch aktuellen Handlung - ausschlaggebend für die anhaltende Popularität des Stücks. "Willkommen", "Cabaret": "Two ladies" und "If you could see her through my eyes" sind als Evergreens längst in die Musikgeschichte eingegangen.

Besonders anrührend ist das vom Kinderchor vorgetragene "Tomorrow belongs to me", in Gießen in deutscher Fassung ("Der morgige Tag ist mein"). Dieser Wendepunkt der Story, der die Infizierung eines Landes mit einer gefährlichen Ideologie markiert, kam eine Spur zu harmlos daher. Großes Lob aber an den Kinderchor und seinen Leiter Martin Gärtner, den gesanglichen Part haben sie mit Bravour bewältigt.

Dass die musikalische Gestaltung so temperamentvoll, glamourös und zugleich hochprofessionell über die Bühne ging, ist vor allem dem musikalischen Leiter Andreas Kowalewitz zu danken, Musical-Spezialist vom Staatstheater am Gärtnerplatz München.

Fazit: Alles in allem eine geglückte Beziehung zwischen erfolgreichen heimischen Kräften und drei Stars aus München und Berlin.
Ulla Hahn-Grimm, 29.11.2011, Wetzlarer Neue Zeitung