»Cabaret«-Premiere im Stadttheater frenetisch gefeiert - Gießener Allgemeine Zeitung

10.09.2013

»Cabaret«-Premiere im Stadttheater frenetisch gefeiert

Verführerisch und sexy – bis die Nazis kommen: Das Musical »Cabaret« feierte im Stadttheater eine frenetisch beklatschte Premiere. Sophie Berner und Andrea Matthias Pagani begeisterten mit ihren Songs.

Minutenlanger Jubel, frenetischer Applaus, verzückte Akteure – am Ende war alles eitel Sonnenschein. Die »Cabaret«-Premiere am Samstagabend im Stadttheater bot auf der kleinen Drehbühne großes Kino. Exzellent die Musik aus dem Graben, bezaubernd das Bühnenbild und die Kostüme, stimmig das Licht (Kati Moritz). Als sich der Vorhang hob, schien ein rauschendes Fest für die Sinne programmiert. »Willkommen, bienvenue, welcome…« Die Moulin-Rouge-Rasanz mit den fesselnden Fesseln der Tänzerinnen und den humoristisch choreografierten Tänzern des Hauses (Einstudierung: Anthony Taylor und Tarek Assam) wurde nach der Pause von der Dialoglastigkeit etwas ausgebremst.

John Kander (Musik), Fred Ebb (Gesangstexte) und Joe Masteroff (Buch) bieten mit ihrem Musical nach dem Stück »Ich bin eine Kamera« von John van Druten und den Berlin-Erzählungen von Christopher Isherwood auch 45 Jahre nach der Uraufführung am Broadway den gewünschten Effekt und ziehen das Publikum in Bann.

»A star is born« könnte es in Gießen heißen. Wobei nicht klar ist, ob der Star die Sally Bowles der Sophie Berner ist, die intensiv das Flittchen aus dem Kit-Kat-Klub gibt und noch intensiver singt, wobei ihre leisen Töne die Faszination generieren, nicht das Fortissimo – Berner, die am Samstag Geburtstag hatte, braucht den Minelli-Vergleich nicht zu scheuen. Oder ist der Conférencier der Star, den Andrea Matthias Pagani mit androgyner Chuzpe augenzwinkernd sexy zeichnet, wenn er nonchalant kommentiert? Paganis Stimme hat diesen verführerischen Schmelz, der so animierend klingt wie ein warmes Croissant mit frischer Butter zum Frühstück schmeckt. Sein Intro und die Vaudeville-Nummern »Two ladies« und »Säht ihr sie mit meinen Augen« samt des frivolen Techtelmechtels mit einer Gorilladame (alternierend von Joey Bustos und Jeremy Green gespielt) sind die Aperçus des Abends.
Ein dritter Star agierte optisch weitgehend im Verborgenen: Das Orchester unter der kongenialen Leitung des musicalerfahrenen Andreas Kowalewitz spielte konzentriert auf. Mit dem nötigen Witz und dem richtigen Timing verschafften die knapp 30 Musiker den Songs die nötige Klasse; die vier Gastmusiker aus Mainz am Blech durften auch mal, neckisch ausstaffiert, auf der Bühne ihr Bestes geben.

Die Songs »Maybe this time«, »Mein Herr« (Chapeau für Berner) und »Money, Money« wurden übrigens nicht für das Musical, sondern für die Verfilmung von 1972 mit Liza Minelli in der Hauptrolle komponiert.

Intendantin Cathérine Miville, für die Inszenierung verantwortlich, hat den Charakteren Leben eingehaucht, wollte sie glaubwürdiger gestalten, als dies bei Aufführungen der Fall ist, die sich nur auf die Musik konzentrieren. Nach der Pause gewinnt folglich der Ernst der Story die Oberhand, wird die beginnende Judenverfolgung zum Menetekel einer Nation. Dass die Geschichte im Berlin des aufkeimenden Nazi-Regimes spielt, bringt die ernste Färbung aufs Tableau und den Kontrast zum im zweiten Teil nicht mehr so ausgelassenen Spiel. Der nachdenklich stimmende Schluss hat seine Berechtigung.
Apropos Nazis: Der braunen Gefahr im Deutschland des Jahres 2011 ist im »Cabaret«-Programmheft des Stadttheaters eine ganze Seite gewidmet und Regisseurin Miville hat in der Matinee am vorvergangenen Sonntag den Rechtsextremismus minutenlang thematisiert. Doch in ihrer Inszenierung gibt es nicht eine Anspielung, nicht einen Hinweis zum aktuellen und hochbrisanten Deutschland-Dilemma. Bei allen möglichen (und unmöglichen) Gelegenheiten vermengen Regisseure gern das Original mit Versatzstücken aus der Gegenwart. Hier wäre es einmal sinnvoll gewesen – Miville hat diese Chance trotz besserem Wissen nicht genutzt.

Die Schauspieler des Stadttheaters, allen voran der präsente Pascal Thomas als Sally-Liebhaber Cliff Bradshaw, agieren prächtig. Petra Soltau und Harald Pfeiffer sind als Fräulein Schneider und Herr Schultz ein glaubwürdiges Liebespaar, selbst wenn ihr Ananas-Song an der Schmerzgrenze schabt. Für die mimisch überzeugende Marie-Louise Gutteck als Fräulein Kost schienen am Samstag Noten nur schwarze Punkte auf Papier zu sein, weshalb wir über die Sangesleistungen der Schauspieler, die ihren Songs eine schaumgebremste Chanson-Steifheit verliehen, an dieser Stelle das Mäntelchen des Schweigens hüllen.

Lukas Goldbach als Ernst Ludwig gebührt Anerkennung. Das lässt sich auch über den Chor des Stadttheaters (Leitung: Wolfgang Wels) sowie den Kinder- und Jugendchor in der Obhut von Martin Gärtner sagen.

Das »Karussell des Lebens« dreht sich – mit diesen Worten hat Matthias Moebius (Bühne und Kostüme) seine Arbeit beschrieben. Er und Miville installieren auf der Drehbühne den Kit-Kat-Klub als farbenfrohes Kinderkarussell mit Holzpferdchen und Showtreppe. Hinter und unter der Treppe siedeln das Zimmer von Mr. Bradshaw und die Wohnung von Fräulein Schneider – ein gelungener Kunstgriff des Ausstatters, Liebe, Show und Leid auf engstem Raum zu visualisieren. Dazu gibt es einen transparenten Vorhang und einen mit schwarzen Fäden versehenen, wenn die Lage ernst wird.

In den Dialogen menschelt es immens, dennoch ist es die Musik, die den Ton angibt. Trotz oder gerade wegen des nahen Nazi-Schreckens und des zerbrochenen Liebesglücks gilt am Ende: »Life is a cabaret.«
Manfred Merz, 28.11.2011, Gießener Allgemeine Zeitung