»Der Blick des Raben« im Stadttheater bejubelt - Gießener Allgemeine Zeitung

21.10.2013

Doppelte Uraufführung begeistert das Publikum: Choreografie von Tarek Assam zu Edgar Allan Poe – Musik von Moritz Eggert

Das war nicht einfach die Premiere eines Tanzstücks mitsamt der Uraufführung einer musikalischen Neukomposition. Die Zuschauer im beinahe voll besetzten Stadttheater erlebten die Uraufführung eines Gesamtkunstwerks, das sie am Ende mit begeistertem Applaus würdigten. Motor des Ganzen ist Tarek Assam, Ballettdirektor am Stadttheater Gießen, der nicht nur die kreativen Ideen hat, sondern ganz offensichtlich auch hohe Motivationskraft für seine Tanzcompagnie und alle anderen Beteiligten besitzt. Dasselbe lässt sich von Generalmusikdirektor Michael Hofstetter sagen, der das Philharmonische Orchester im Graben zu Höchstleistungen anspornte.

»Der Blick des Raben« heißt der Tanzabend nach dem berühmten Gedicht von Edgar Allan Poe (1809 - 1849). Dass der amerikanische Journalist, Schriftsteller und Lyriker schon lange tot ist, das ist vielen nicht klar, so geläufig sind uns seine Schauergeschichten (»Die Glocken«, »Die Grube und das Pendel«) durch diverse Verfilmungen. Poe hat die Urängste des Menschen literarisch beschrieben, noch vor Sigmund Freud und der Psychoanalyse.

Wie geht man so ein Thema auf der Bühne an, ohne dass es zur oberflächlichen Nacherzählung von Leben und Werk gerät? Assam stellt die Atmosphäre der Geschichten dar, die von Todesangst und Bedrohung erzählen und, so lässt sich nach der Premiere sagen, wie man lernt, damit umzugehen. Es ist fast ein Lehrstück der Psychotherapie geworden: sich den Ängsten stellen und Vertrauen zur eigenen Stärke finden.

Wobei es durchaus einen roten Faden der Erzählung gibt, der im Kennenlernen der beiden Hauptfiguren, den Raben, besteht. Von der ersten flüchtigen Begegnung über vorsichtiges Annähern, dem Miteinandervertrautwerden bis zum Abschiednehmen. Der reale Rabenmensch in Alltagskleidung, dargestellt von einem hoch sensibel tanzenden und darstellerisch überraschenden Manuel Wahlen, ist von vielen Ängsten geplagt.

Diese werden visualisiert im »Schwarm« gesichtsloser Wesen mit Masken (Kostüme Gabriele Kortmann) oder in grafischen Videos (Simon Brenner), die den Protagonisten mal in einem Auge verschwinden oder von ekligen Insektenschwärmen überziehen lassen. Hilfe kommt durch das Alter Ego, höchst beeindruckend dargestellt von Michael Bronczkowski als machtvolles, dunkel gekleidetes Wesen aus einer anderen Welt; er kennt die Ängste, weiß, dass man sie überleben kann, er begleitet und beschützt den anderen auf seinem Weg.

Zur dichten Atmosphäre tragen ebenso bei: das schlichte, ästhetisch ansprechende Bühnenbild von Fred Pommerehn, das den angsterfüllten Raum in klinisch kaltes Weiß setzt, das verändert wird durch farbige Beleuchtungen (Manfred Wende) und transparente Wandteile, die sich häufig rauf und runter bewegen, dadurch zur Verunsicherung beitragen. Nur einmal ist der Bühnenraum ganz frei, ist die Weite sicht- und die Freiheit spürbar, als es im dritten Liedvortrag um eine Liebe im Sommer geht.

Ja, auch liebevolle Szenen gibt es in diesem Tanzstück, das insgesamt unglaublich dicht dran ist an der musikalischen Neuschöpfung von Moritz Eggert. Der Tanz visualiert einzelne Stimmen aus dem Orchestergraben, schwingt mit bei sich wiederholenden Passagen, akzentuiert dramatische Entwicklungen oder unterläuft diese durch Stillstehen. Eggert ist erklärter Poe-Fan, er hat sich dessen Geschichten noch einmal vorgenommen und erzählt sie quasi musikalisch. Dabei schöpft er ebenso aus dem Repertoire der Musik der Romantik wie aus Filmmusiken des 20. Jahrhunderts. Und er hat Gedichte von Poe (und eines von dem deutschen Romantiker Friedrich Rückert) vertont, die von der Münchener Jazz-Sängerin Bettina D’Mello beeindruckend einfühlsam interpretiert werden. Für die tänzerischen Übergänge sorgen »Zwischenspiele«, die als solche nicht immer deutlich hervortreten. Alles ist ein beständiges Fließen und Ineinanderübergehen.

Die in Teilen neue Tanzcompagnie zeigt sich als »Schwarm« in Bestform: die Tänzerinnen Caitlin-Rae Crook, Lea Hladka, Yuki Kobayashi, Jennifer Ruof, Mamiko Sakurai, Magdalena Stoyanova, Leona Striet und die Tänzer Sven Krautwurst, Edoardo Novelli, Claudio Pisa, Endré Schumicky. Fazit: »Der Blick des Raben« bietet 90 Minuten Spannung pur. Unbedingt empfehlenswert, nicht nur für Poe-Fans. Dagmar Klein


Dagmar Klein, 21.10.2013, Gießener Allgemeine Zeitung

 

Rhythmischer Genuss

Nun hat so ein Moritz Eggert ja einen Ruf zu verlieren. Er kann Gießen nicht einfach ein paar rabenschwarze Dissonanzen hinwerfen nach dem Motto: Das mag genügen für die Provinz. Eggert und der Provinz genügt das nicht. Auch wenn ihn im fernseh- und radiodurchträllerten Land kaum jemand kennt, ist Moritz Eggert in der deutschen Komponistenszene ein Star. Er ist ein Großer. Und entsprechend ist sein Auftragswerk für das Tanzstück »Der Blick des Raben« geworden. Groß im musikalischen Sinne.
 

Die rhythmisch starken Reminiszenzen sind unverkennbar. Es gibt Anklänge an einen von Eggerts Lieblingskomponisten, Schostakowitsch, ebenso wie an Prokofjew, Mussorgski und Ravels »Bolero« samt poe-typischem Zierrat. Im dritten Bild verbeugt sich der deutsche Tondichter vor Bernard Herrmann, Alfred Hitchcocks genialem Filmkomponisten.

Und Eggert verbeugt sich auch ein wenig vor sich selbst. Zu Beginn klingt sein »Rabe« nach dem eigenen, treibenden »Dance Millennium«, den er 1998 für eine fast identische Orchesterbesetzung schrieb und der zu den fesselndsten Stücken zählt, die der gebürtige Heidelberger, der in Frankfurt aufgewachsen ist, bislang komponiert hat.
Es ist nicht leicht, die Werke von Eggert mitzupfeifen. Aber drauf gepfiffen ist deswegen noch lange nicht. Die hysterisch anmutenden Quer- und Piccoloflötenelemente erinnern an seinen Parforceritt »Außer Atem« für Blockflöte, der jeden Flötisten schwindlig spielt.
Sängerin Bettina D’Mello, die oft mit Eggert zusammenarbeitet, verleiht den zur Komposition gehörenden Liedern jazzigen, sphärischen Charme. Zwei Titel sind älteren Datums, näher am Tonalen, die Texte stammen aus Gedichten Poes und aus der Feder des Romantikers Friedrich Rückert, den Klassikfans in Verbindung mit Gustav Mahler bringen.


Die Streicher im dicht und konventionell besetzten Graben fliegen durch ein Heer von Glissandi und Flageoletttönen, sie bieten unter dem Dirigat von Generalmusikdirektor Michael Hofstetter, der zuvor schon mit Eggert zusammengewirkt und ihn für das Gießen-Projekt gewonnen hat, eine exzellente Vorstellung. Ebenso wie die Bläser. Sie zeigen enormen Einsatz mit hörbarem Spaß am Sujet, dicke Lippen (Chapeau für die Posaune!) am Sonntagmorgen inklusive. Im Gießener Orchestergraben spielt sich derzeit Unerhörtes ab. Höchste Zeit, dass es erhört wird.


Manfred Merz, 21.10.2013, Gießener Allgemeine Zeitung