Die Karaffe mit Holunderwein steht schon bereit - Gießener Anzeiger

27.02.2012

Arsen und Spitzenhäubchen“ im Stadttheater: Darsteller und Regisseur Thomas Goritzki mit Applaus überschüttet

Glaubt man dem Sprichwort, dann hat jeder von uns eine Leiche im Keller. Die beiden alten mildtätigen Tanten Abby und Martha Brewster hüten aber nicht nur ein dunkles Geheimnis, sondern haben gleich ein ganzes Dutzend Leichen im Keller vergraben. In der neuen Schauspielproduktion „Arsen und Spitzenhäubchen“ lädt das Gießener Stadttheater ins gastfreundliche Haus der beiden Mörder-Schwestern ein. Zweieinhalb Stunden schütteln sich die Zuschauer vor Lachen, denn das spielfreudige, von Gastregisseur Thomas Goritzki geführte Ensemble findet genau den richtigen Dreh, um aus der 70 Jahre alten Kriminalkomödie von Joseph Kesselring Wortwitz und Situationskomik herauszukitzeln. Bei der Premiere am Samstagabend überschüttete das amüsierte Publikum die Darsteller mit Applaus - und den hatten sich auch alle wohlverdient.
Das vermeintlich Leichte in der Kunst ist für die Ausführenden bekanntlich immer das schwerste. So bewegen sich die Schauspieler in dieser turbulenten, tiefschwarzen Komödie, die Anfang der 40er Jahre zu den erfolgreichsten Stücken des Broadways und gleich darauf durch den Film von Frank Capra zum Welterfolg im Kino wurde, immer auf sehr, sehr dünnem Eis. Und dieses Eis, unter dem die Klamotte fröhlich sprudelt, droht ständig zu brechen. Bei Goritzki bricht es nicht. Er und das Ensemble halten geschickt die Balance, um den Klamauk nicht überschwappen zu lassen.
Die Komik ist genau dosiert, die Gags sitzen perfekt, und das Bühnengeschehen läuft mit der Präzision eines Uhrwerks ab.
Heiko Mönnich schuf ein Bühnenbild samt Kostümen, wie man es heutzutage nicht mehr oft zu sehen bekommt. Alles darin zeugt vom altmodischen Charme einer alten Villa in Brooklyn aus den frühen Tagen des 20. Jahrhunderts: Ein Schreibsekretär mit einem Bildnis von Abraham Lincoln darüber, die Fenstertruhe, in der sich, wie man bald darauf erfährt, eine Leiche befindet, die Standuhr, die Stehlampe, die Sessel und der Tisch mit Spitzentischdecke, Teegedeck und der Karaffe mit Holunderwein, die Treppe nach oben und die Streifentapete mit den darüber verlegten Elektrokabeln. Dies ist das häusliche Reich von Abby und Martha, die alleinstehende alte Herren liebevoll bemuttern und sie schließlich - aus reiner Barmherzigkeit, versteht sich - mit ihrem selbst gemachten Holunderwein vergiften, um sie aus ihrer Einsamkeit zu erlösen. Das geht so lange gut, bis ihnen ihr Neffe Mortimer völlig überraschend auf die Spur kommt.
Stumme Gebärden
In Hollywoods Filmklassiker spielt Cary Grant den hochgradig nervösen Theaterkritiker Mortimer Brewster, der bei einem Besuch plötzlich die Leiche in der Truhe entdeckt und so hinter das Geheimnis seiner Tanten kommt. In Gießen ist Milan Pesl in dieser Rolle erst einmal sprachlos, als er nichts ahnend den Deckel der Truhe hebt und ihn schnell wieder fallen lässt. Er ringt nach Worten, nach Luft und Fassung und taut erst allmählich aus seiner körperlichen Erstarrung wieder auf. Dann verbiegt er sich grotesk. Stumme Gebärden wie diese lassen seine Rolle glaubwürdig werden. Pesl zeigt in allen Facetten, wie sich Mortimer vom Normalbürger zum flatterigen Nervenbündel wandelt und wie er mit allen Mitteln versucht, die Morde der Tanten zu vertuschen. Mirjam Sommer ist als seine Verlobte Elaine das nette Mädchen von nebenan.
Selig entrückt und immer ein verklärendes Lächeln im Gesicht - das sind Barbara Krabbe als Abby und Petra Soltau als Martha. Die Gutherzigkeit und Milde, die aus jedem ihrer Sätze sprechen, stehen in einem krassen Gegensatz zu ihren Taten. Wenn Petra Soltau durch den Salon geht, scheint sie über Wolken zu schreiten. Und wenn die Schwestern zur Trauerfeier im Duett „Großer Gott, wir danken dir“ und mit den übrigen das patriotische Lied „Land of hope and glory“ singen, ist das nicht nur herzallerliebst, sondern auch urkomisch.
Als Mortimers Bruder Jonathan, der sich am Ende als entlaufener Massenmörder entpuppt, trägt Rainer Hustedt die Züge Boris Karloffs. Seine ganze plumpe, tapsige Gestik erinnert an das Filmmonster aus Frankensteins Laboratorium. In seinem Schlepptau ist der leicht übergeschnappte, ständig pichelnde Dr. Einstein, dem Sebastian Songin mit geduckter Haltung und eigentümlicher, kindlich-singender Sprechweise eindrucksvoll Gestalt verleiht. Harald Pfeiffer, wandlungsfähig wie so oft, stopft sich eben noch als Pastor Dr. Harper mit den leckeren Keksen der alten Damen voll, um später als rothaariger Mr. Gibbs auf Zimmersuche und zum Schluss als schüchterner, sehr leise sprechender Irrenhaus-Direktor Dr. Witherspoon aufzutreten.
„Attacke!“
Eine dankbare Rolle hat Frerk Brockmeyer als Teddy Brewster übernommen, der sich für Theodor Roosevelt hält, mit lauten „Attacke!“-Rufen die Treppe hoch stürmt und immer im falschen Augenblick die Trompete bläst. Da ist das Gelächter garantiert.
Nachdem Zwischenaktmusik aus „Tatort“ und der „Lindenstraße“ das Finale eingeleitet hat, scheint nun endlich alles reif für die Klapsmühle zu sein. Nicht ganz schuldlos an dem heillosen Durcheinander sind freilich die Polizisten O’Hara (Lukas Goldbach), Klein (Pascal Thomas), Brophy (Corbinian Deller) und Leutnant Rooney (Roman Kurtz). Diese unschlagbare Truppe löst die nächsten Fälle am 3., 10., 25., 30. März, 26. April, 6., 11., 18., 24. Mai, 18., 22., 29. Juni jeweils um 19.30 Uhr und am 1. April um 15 Uhr.
Thomas Schmitz-Albohn, 27. Februar 2012, Gieß3ener Anzeiger