Entfesselte Urgewalten: Stürmischer Beifall für Richard Wagners „Fliegenden Holländer“ mit einem bärenstarken Adrian Gans - Gießener Anzeiger

26.09.2013

Die Mission Wagner des Gießener Stadttheaters im Jubiläumsjahr 2013 ist gelungen – ohne Wenn und Aber. Denn als am Samstag bei der Premiere des „Fliegenden Holländers“ in der Inszenierung von Helmut Polixa und unter der musikalischen Leitung von Florian Ziemen der letzte Vorhang fiel, brach begeisterter Applaus im Publikum los. Vorangegangen war ein über zweistündiges urgewaltiges Musikerlebnis, das mit der Schlichtheit der eingesetzten Ausstattung geradezu betört.

Schwarzweiß-Kontraste

Damit ist das Grundkonzept der Inszenierung angesprochen, die in Sachen Bühnenbild und Kostüme von Heiko Mönnich auf Einfachheit setzt. Segelschiffe? Schroffe Felslandschaften? Tosende Wellen? Gar technischer Schnickschnack? Das alles gibt es in dieser Inszenierung der Pariser Urversion des „Holländers“ von 1841 nicht. Der Regisseur wirft sein Ensemble vielmehr auf eine fast nackte Bühne, die mit großen Formelementen in Schwarzweiß-Kontrasten gestaltet ist und hier und da mal über seemannstypische Gegenstände wie Taue verfügt. Gelegentlich tauchen einige schematisierte Wellen auf – viel mehr Ausstattung gibt es nicht.

Assoziationen möglich

Auch bei den Kostümen betont Mönnich das Schlichte, beispielsweise Regenmäntel für den Seemannschor und leuchtend rote, asiatisch anmutende Kleider für den Frauenchor. Der Effekt dieses Purismus ist beachtlich, denn rein visuell bietet er zwar Zugänge zur Handlung, allerdings ganz leise und ohne sie dem Zuschauer aufzuzwängen. Ein Beispiel: Etwa die verwendeten Formen der Bühnenelemente deuten das Psychologische ganz sanft an, indem sie Assoziationen zum expressionistischen Film wecken. Wer diesem optisch angedeuteten Interpretationspfad folgen will, kann das tun, muss es aber nicht – gerade diese Offenheit ist das Geniale an Mönnichs Bühnenbild. Und der Purismus führt im Ganzen zurück zur guten alten Schule der Charakterdarstellung, die weitgehend auf die musikalischen und darstellerischen Fähigkeiten des Ensembles setzt. Für einen Regisseur ist das ein Wagnis, bei dem er voll und ganz auf sein Personal vertrauen muss. Polixa tut das und wird reich dafür belohnt.

An erster Stelle von Bariton Adrian Gans, der einen bärenstarken Holländer gibt. Darf man das Wort „sensationell“ gebrauchen? Darf man, denn es ist beeindruckend diese machtvolle und raumgreifende Stimme zu erleben, die sich als die ideale Besetzung erweist. Gans Kantigkeit und stimmliche Macht lässt zu keiner Sekunde einen Zweifel daran, dass hier der Seemann auf der Bühne steht, der gegen die Naturgewalten aufbegehrte und nun als verlorene Seele über die Meere segeln muss. Mit anderen Worten: Gans ist der Holländer. und es verwundert nicht, dass er am Premierenabend Extraapplaus bekam. Genauso wie Sopranistin Sonja Mühleck, die als Senta mit der Ballade im zweiten Aufzug das musikalische Herzstück der Oper zu singen hat. Sie tut das mit Bravour, und es ist beachtlich, die stimmliche Flexibilität der Sängerin zu erleben, die die Sehnsucht und Verzweiflung ihrer Antiheldin rührend authentisch auf die Bühne bringt. Hut ab auch vor Tenor Eric Laporte als Georg, Verehrer Sentas. Glockenklar und mit tenoralem Schmelz singt er seine Warnungen an die Geliebte vor dem fremden Holländer, den der von Bass-Bariton Calin-Valentin Cozma gesungene Vater Donald von hoher See mit nach Hause gebracht hat. Donald ist quasi der rationale Gegenpol zu den drei Gefühlsmenschen Georg, Senta und dem Holländer, der seine Tochter aus nüchterner Nützlichkeitsberechnung an den reichen Fremden als Braut verkauft. Cozma, durch eine Grippe am Premierenabend stimmlich angegriffen, legt diese Rolle betont sachlich, bisweilen fast leise an. Ebenso wie Altistin Rena Kleifeld als Sentas Amme Mary und Tenor Andreas Kalmbach. Kurzum, eine superbe Ensembleleistung, auch dank bestechender Auftritte von Chor und Extrachor unter der Leitung von Jan Hoffmann. Wenn die kernigen Seeleute an die Rampe treten und direkt ins Publikum singen, jagt ihr Gesang Schauer über die Rücken der Zuhörer.

Kantig und laut

Das von Ziemen dirigierte Philharmonischen Orchester entfesselt im Graben ein ums andere Mal die Naturgewalten im „Holländer“. Übrigens: Mit den ursprünglich von Wagner vorgesehenen Instrumenten wie Naturhörnern gelingt es, das Wuchtige, Kantige und häufig sehr Lautstarke dieser frühen Oper des Komponisten wirklich gut rüberzubringen. Damit ist zugleich aber auch ein kleines Manko angesprochen, denn selten war es am Samstag schon mal so laut, dass die Solisten unterzugehen drohten. Aber das hat den Gesamteindruck nicht geschmälert.

Fazit: Polixa, Ziemen und die Ihren haben eine berauschende Inszenierung des „Fliegenden Holländers“ auf die Bühne gebracht, und es ist nicht zu hoch gegriffen, von einem Spielzeithöhepunkt zu sprechen, den man sich nicht entgehen lassen sollte. Die Mission Wagner ist gelungen. Weitere Aufführungen am 29. September, 3. und 24. Oktober, 16. November, 8. und 25. Dezember und 12. Januar jeweils um 19.30 Uhr im Großen Haus.

Von Stephan Scholz, 23.09.2013, Gießener Anzeiger