Jubel für »Fliegenden Holländer« im Stadttheater - Gießener Allgemeine Zeitung

24.09.2013

Die Schallmauer durchbrochen: Im Großen Haus gibt es Begeisterungsstürme für Wagners »Fliegenden Holländer«. Adrian Gans in der Titelpartie ist der Star des Abends.


Mitreißend, betörend, kongenial. Es hagelt Superlative für diese Urfassung des »Fliegenden Holländer« aus dem Jahr 1841, mit der das Stadttheater am Samstagabend im ausverkauften Großen Haus das Publikum zu Begeisterungsstürmen hinreißt. Erster Kapellmeister Florian Ziemen und Regisseur Helmut Polixa haben ganze Arbeit geleistet. Der eine, Polixa, indem er das vom Wahn geprägte Seefahrerepos optisch reduziert und beinahe zu einem Kammerspiel macht, der andere, Ziemen, in dem er das Philharmonische Orchester an den richtigen Stellen forciert und so dem dramatischen Geschehen die nötige Power verleiht.

Polixas Arbeit lebt von ihrer zurückhaltenden Dosierung. Schiffe, schwarze Masten, rote Segel, Felsen – das alles gibt es nicht in diesem »Holländer«. Zu sehen sind Akteure in unifarbenen Kostümen vor einem spartanisch schwarz-weißen Bühnenbild (beides: Heiko Mönnich). Das Verkleinern der ohnehin nicht geräumigen Spielstätte auf eine Podestschräge – bei Puccinis »La bohème« setzte der Regisseur unlängst einen engen Gitterrohrrahmen als Wohnraum der Protagonisten in Szene und damit das Stück in den Sand – rückt die innere Seelenpein des Holländers ins rechte Licht.

Der wird zu Beginn an Land geschwemmt, vom tosenden Meer ausgespuckt als gepeinigte Kreatur mit schwarz-blauer Algenhaartracht und herber Verbitterung. Den Sturm auf der Bühne und im Herzen dieses zerrissenen Mannes visualisieren schwarze Meereswellenscherenschnitte – visuell ein laues Lüftchen nur, das sich gleichwohl im Laufe der gut zweistündigen pausenlosen Spieldauer als das geeignete Mittel entpuppt, in Bann zu schlagen.

Polixas Holländer ist suizidgefährdet, der Selbstmord zu Beginn mit dem Dolch gelingt dem zum ewigen Leben verdammten Wiedergänger naturgemäß nicht. Erst am Ende erschließt sich dieser auf den ersten Blick unsinnige Einfall, wenn Senta statt von der Klippe im Finale über die Klinge springt und sich mit dem Dolche ersticht, woraufhin es der Holländer, geführt von Sentas schon regungsloser Hand, ihr gleichtut, um endlich auch dem Tod ins Auge zu blicken.

Diese Lesart der Geschichte des gequälten Seemanns, der verdammt ist, ewig die Meere zu kreuzen und nur alle sieben Jahre einmal an Land darf, um eine treue Frau zu freien, die ihn von seinem Fluch erlöst, ist schlicht und zwingend zugleich. Sie lässt trotz der begrenzten Platzverhältnisse auf der Bühne genügend Raum für Fantasie, engt die Charaktere nicht ein, wodurch es dieser Interpretation des Wagner-Frühwerks gelingt, Transparenz zu entfalten, zu atmen gar. Das ist das Verdienst des Regisseurs. Und es ist ihm hoch anzurechnen, bescheiden zu inszenieren.

In jedem anderen Stück hätte Polixa Hiebe eingesteckt, wenn ihm nichts anderes einfiele, als die Sänger an die Rampe zu stellen, damit sie ihre Arien schmettern. Beim »Holländer« ist dieses wohldosierte Nichtbewegen wichtig für den vergeistigten Aspekt des Werks. Wagners in Töne gefasste romantisch-verklärte Seelenpein wirkt auf diese Weise glaubwürdiger und fesselnder als durch forcierten Aktionismus.

Und die Sänger? Sie sind der zweite große Glücksfall des Abends und feiern allesamt ihr Rollendebüt. Heldenbariton Adrian Gans beweist in der Titelpartie Einfühlungsvermögen und Durchschlagskraft zugleich. Inbrünstig durchbricht er die vokale Schallmauer und verleiht seinem Holländer jene magische Aura, die ihm gebührt – auch in den nachdenklichen, lyrischen Momenten. Ansonsten ist Gans ein vokales Ungetüm im besten Sinne. Die Wucht seines Gesangs schwitzt den Zuhörer in den Sitz hinein. Wer den Bariton erleben darf, weiß: A Star is born.

Sonja Mühleck als Senta erobert die Herzen des Publikums ebenfalls wie im Sturm. Als fleischgewordener blondgewellter Männertraum im Walküren-Format intoniert die charismatische Sopranistin mal elegant und leicht, mal sphärisch-entrückt und ganz zum Schluss, in ihrer Todesszene, mit einer Intensität, die einem in Mark und Bein fährt. Ein Glanzpunkt auch ihre Arie im zweiten Aufzug, die in der hier gehörten Urfassung einen Ton höher notiert ist als in der späteren, gängigen Version (weil Wagner 1843 seine Lieblingssopranistin mit der Rolle bedacht hatte, die mehr Mezzo sang).

Eric Laporte verleiht mit Kraft und Schmelz und dank seiner präzisen wie generösen Kantilenenkunst dem unglücklich verliebten Georg (in Wagners finaler Fassung der Erik) tiefen Ausdruck. Ihm ist die Rolle auf den Leib geschrieben. Laporte rundet das Gesangstrio zu einem Dreigestirn erster Güte, das es in Gießen in dieser Dimension zuvor noch nicht gegeben hat.

Chor setzt Zeichen

Andreas Kalmbach als Steuermann fügt sich mit seinem glockenklaren lyrischen Tenor gut ein ins Ensemble. Rena Kleifeld als Sentas Amme Mary präsentiert ihren Alt voluminös, aber mit zu viel Vibrato. Haus-Bassbariton Calin-Valentin Cozma ist leicht indisponiert, überzeugt aber als Sentas Vater Donald (später: Daland) dennoch. Der Chor unter der bewährten Leitung von Jan Hoffmann setzt Zeichen. Die Männer zeigen sich als Seefahrer stark, ringen mit Tauen und präsentieren einen kreisrunden Gruppen-Sirtaki. Als flirrender Fixstern am Firmament leuchtet der Frauenchor, der dicht durch die heikelsten Partien schwebt – der Auftritt der Damen zu Beginn des zweiten Aufzugs als rot-schwarz gewandete Spinnerinnen hat Format.


Das Orchester bietet unter Ziemens Dirigat eine stimmige Leistung. Die Streicher bezirzen mit seidigem, impulsivem Klang. Sie halten die Partitur zusammen, bilden ein klangschönes Zentrum, das an seinen Rändern, da wo die anachronistischen Naturblechbläser musizieren müssen, hin und wieder auszufransen droht. Ziemens Intention, Wagners Originalklang wiederzubeleben, stößt an ihre Grenzen.

Gießen ist ein Parade-»Holländer« gelungen, der sich vor den Inszenierungen größerer Häuser nicht zu verstecken braucht. Solange der imposante Gans noch im Stadttheater zu hören ist, heißt es: Hingehen, hingehen, hingehen!

Manfred Merz, 23.09.2013, Gießener Allgemeine Zeitung