Hommage an den Großmeister der Angst - Gießener Anzeiger

21.10.2013

Ein Mann liegt gefesselt auf dem Rücken. Langsam und unaufhaltsam nähert sich ihm ein Pendel mit einer rasiermesserscharfen Klinge. Was empfindet er? Das ist eine der Fragen, die Tarek Assam mit seinem „Der Blick des Raben. Ein Tanzabend zu Edgar Allan Poe“ stellt. Am Samstag wurde das Stück mit Musik von Moritz Eggert im Großen Haus uraufgeführt. Und am Ende gab es kräftigen Applaus für diese bild- und klanggewaltige Hommage an den amerikanischen Großmeister der Angst.


Und Hommage ist genau das Stichwort, denn Assam erzählt nicht einfach Geschichten oder Gedichte von Poe nach. Der Ballettdirektor verbindet vielmehr lyrische und prosaische Texte wie „Der Rabe“, „Die Glocken“ oder „Die Grube und das Pendel“ mit biografischen Elementen des Schriftstellers. So entsteht eine Reihe emotional höchst aufgeladener Choreografien, die die vielen Facetten des realen und literarischen Dichterlebens spiegeln. Eingeschrieben sind sie zwei Raben, die sich – und das hält die einzelnen Abschnitte der Handlung zusammen – mit dieser Gefühlsflut auseinandersetzen müssen.

Begleitet von Eggerts Musik, die szenisch mal harmonisch und fast zärtlich, dann wieder brutal, schrill und verstörend daherkommt, streifen sie durch eine Welt von schneidender Angst und immer wieder zart aufkeimender Hoffnung. Fred Pommerehn verortet diese Welt auf einer fast klinisch wirkenden weißen Bühne, die im Hintergrund von einer Reihe großer Gitterelemente eingefasst ist. Von der Decke pendeln an langen Schnüren matt leuchtende Lämpchen. Doch der Clou dieses Bühnenbildes sind die von Pommerehn situationsabhängig eingesetzten großen Trennscheiben, die rein auf Handlungsebene zeitgleiche Mehrdimensionalität eröffnen und bedrückende Enge vermitteln. Alle Elemente zusammengenommen bekommt der Zuschauer so den Eindruck, in einen Schaukasten der Angst zu blicken, der die Bewegungsfreiheit einschränkt und ein Entkommen unmöglich macht. Hut ab vor dieser Idee, die durch Manfred Wendes Lichteffekte noch verstärkt wird. Je nach Situation mit farbigen, warmen oder eiskalten Tönen leuchtet er die Bühne aus, und zusammen gelingt es Pommerehn und Wende, die ertanzten großen Gefühle rein bühnenoptisch wirklich gekonnt umzusetzen. Unterstützt werden sie dabei von Gabriele Kortmann, die auf der Ebene des Schnitts eher auf schlichte Kostüme wie Trikots oder Alltagskleidung setzt. Viel wichtiger ist hier die breite Palette an Farben, die die einzelnen Sequenzen illustrieren.


Bedrohliche Pendel


In rabenschwarzen Kostümen geht es etwa zur Sache, als gleich nach der Pause der absolute Höhepunkt des Abends ansteht. Von der Decke lässt Pommerehn einige zusätzliche dunkle Elemente herunter: die Pendel. Die Musik im Graben schwillt an, wird lauter, immer lauter. Die Bewegungen des Ensembles werden wuchtiger, immer hektischer und es gelingt den Tänzern wirklich famos, die Spannung des Mannes, der den Tod direkt vor Augen hat, auf die Bühne zu bringen. Ein glänzender Moment und gleichzeitig ein gutes Beispiel dafür, wie Assams Choreografie sich Poe annähert. Mit ertanzten Bildern von Ängsten, Grausamkeiten, aber auch der biografisch tatsächlich belegten starken Hingezogenheit des Amerikaners zu Frauen destilliert der Ballettdirektor quasi die emotionalen Essenzen dieses Autorenlebens, die das Ensemble wirklich glänzend umsetzt. Allen voran Michael Bronczkowski und Manuel Wahlen, die die beiden Raben tanzen. Wahlen kommt dabei der Part des verängstigten und massiv bedrohten Gefühlsmenschen zu, was der Schweizer mit sanften, zaghaften, aber auch phasenweise panischen Bewegungen auf die Bühne bringt. Eine höchst authentische Darstellung, die das emotionale Überfluten des Individuums nachfühlen lässt. Respekt aber auch vor dem anderen Raben, dem Bronczkowski Macht einschreibt. Wuchtig, kantig, präsent verkörpert er den Gegenpart, der mit allen Gefühlswassern gewaschen ist und von nichts mehr erschüttert werden kann. Mehr und mehr nähern sich beide im Lauf der Handlung an, und es ist eine famose Idee von Assam, zwei Seiten der Persönlichkeit Poes in dieser Doppelrolle anzulegen. Immer wieder konfrontiert mit dem Grauen, das hier vor allem aus der Zwischenmenschlichkeit resultiert, werden sie als Individuen in einem Schwarm, den Caitlin-Rae Crook, Lea Hladka, Yuki Kobayashi, Jennifer Ruof, Mamiko Sakurai, Magdalena Stoyanova, Leona Striet, Sven Krautwurst, Edoardo Novelli, Claudio Pisa und Endre Schumicky tanzen. Sie sind die eigentlichen Auslöser der großen Gefühle, und es ist beeindruckend, wie akrobatisch und ausdrucksstark das Ensemble bisweilen zu Werke geht. Ein weiteres Kompliment gebührt übrigens auch den Musikern.


Am Premierenabend von Michael Hofstetter geleitet – bei den folgenden Aufführungen wird sich der Generalmusikdirektor mit Herbert Gietzen abwechseln – setzt das philharmonische Orchester Eggerts komplexe und anspruchsvolle Musik gut um. Das Treiben in den Affektfluten ist auch aus dem Graben zu vernehmen. Einen besonderen Höhepunkt markieren zudem vier Lieder, die Bettina D´Mello am Bühnenrand singt und die dank ihrer glasklaren Stimme zu Ruhepolen der Inszenierung werden, besonders das wunderschön vorgetragene „Ich bin der Welt abhandengekommen“. Das Fazit: Tarek Assam und die Seinen haben einen urgewaltigen Tanzabend auf die Bühne gebracht, der durch starke Bilder und Klänge besticht.

Längst sind die Erwartungen an den Ballettdirektor hoch, doch es ist ihm wieder einmal gelungen, sie zu übertreffen und einen Saisonhöhepunkt ins Stadttheater zu bringen. Ach ja: Was ist eigentlich aus dem Mann unter dem Pendel geworden? Wer das erfahren will, sollte hingehen: Weitere Aufführungen sind am 26. Oktober, 22. November, 5., 13. und 22. Dezember jeweils um 19.30 Uhr und am 17. November um 15 Uhr im Großen Haus.

Stephan Scholz, 21.10.2013, Gießener Anzeiger