Kraftbetonte Show wieder zum Bühnenleben erweckt - Gießener Anzeiger

24.02.2014

TANZTHEATER Zwei Stücke des protugiesischen Großmeisters Horta in Gießen gefeiert

GIESSEN - Welche Ingredienzien gehören in ein gutes Tanzstück? Natürlich erst einmal eine gute Idee und die passende choreografische und szenische Umsetzung. Dann aber auch begabte und engagierte Tänzerinnen und Tänzer, die diesen Gedanken die lebendige Bewegung verleihen. Hinzu kommen Bühnenbild, Musik, Kostüme. Das alles war, auch nach den überaus positiven Reaktionen des Publikums zu schließen, aufs Feinste in der jüngsten Premiere des Tanztheaters Gießen zusammengefügt.

Der etwas schwierige Titel lautet „The Horta Project – Soap Recreation“. Hiermit ist die Wiederbelebung zweier Stücke der in den 90er Jahren viel gerühmten SOAP-Company unter Leitung des portugiesischen Choreografen Rui Horta am Frankfurter Mousonturm gemeint.

„Ordinary Events“ – das verspricht Super-Akrobatik mit Trommeln und Bongos. Die Show kommt mit nur drei roten Teppichen und drei Stühlen aus. Es ist dynamisches, kraftbetontes Tanztheater, wie es vorher in Deutschland in dieser Form nicht anzutreffen war. Auch nach fast 25 Jahren immer noch gut anzuschauen, gerade in dem Wissen, dass durch diese Impulse nachfolgende Generation von Choreografen beeinflusst wurden.

Vier Tänzer und zwei Tänzerinnen zeigen nach der Musik von „Les Tambours du Bronx“ ein temporeiches, fast akrobatisches Programm, das gewöhnlichen Ereignisse und alltägliche Beziehungen zwischen Menschen zum Thema hatte. Da gibt es intime Momente, doch in den meisten Szenen überwiegt der Eindruck von mechanisierten Alltagsabläufen, vielleicht allzu lautstark dokumentiert von dem wiederkehrenden Rhythmus der Trommeln.

Hervorragende Leistungen präsentieren Lea Hladka und Jennifer Ruof sowie ihre männlichen Kollegen Edoardo Novelli, Claudio Pisa, Endre Schumicky und Manuel Wahlen. Das gilt für die ganze Truppe: Die Tanzcompagnie Gießen präsentiert sich in Hochform, auch wenn ihr Chef Tarek Assam nicht unmittelbar beteiligt war – doch bei den Proben gewiss hin und wieder um die Ecke lugte. Die Probenarbeit startete bereits im November. Die choreografische Assistenz hatten Dietmar Janeck und Emmanuel Garcia Gazquez übernommen.

Nein, ein sanftes Stück ist dieses „Ordinary events“ gewiss nicht. Genau so wenig wie das folgende, viel komplexere Stück „Khora“ aus dem Jahr 1996. Khora ist der griechischen Philosophie entnommen und beschreibt laut Platon den beseelten Raum, aus dem alles hervorgeht. Aber ganz so abstrakt, wie es sich anhört, ist es nicht. Es werden Geschichten von menschlichen Beziehungen erzählt, von Grenzüberschreitungen, Ausgrenzungen, Raumgewinn und Macht.

Ein imposantes Bühnenbild vermittelt eine Ahnung von Raum und seinen Begrenzungen. Ein Raum in Schwarz, nur beleuchtet von zehn Overhead-Projektoren auf dem Boden und fünf weiteren, hoch oben an der rückwärtigen Bühnenwand. Eine symbolträchtige Installation: Statt Folien werden hier Glasbehälter mit Eiswürfeln durchleuchtet, die im Verlaufe der tänzerischen Performance allmählich schmelzen. Die Musik stammt diesmal von dem belgischen Komponisten Koen Brandt und dem Klang-Designer Norbert Zacharias.

Eine der Tänzerinnen, Magdalena Stoyanova, ergreift ein Klebeband und teilt die Bühne in Areale ein. Sechs Tänzer versuchen sich auf dieser Fläche zurechtzufinden, da kommt von außen ein weiterer Mann über die „Grenzlinie“ gekrochen, Michael Bronczkowski, und wird sofort von den anderen zurückgedrängt. Vielleicht weil er dunkelhäutig ist? Doch bereits ein paar Anläufe weiter ist der Tänzer in das Geschehen bestens integriert, zeigt zusammen mit der zierlichen Caitlin-Rae Crook einige besonders innige und tänzerisch höchst anspruchsvolle Szenen.

Ganz anders sind die Rollen der beiden Herren Sven Krautwurst und Manuel Wahlen, die sich als die Oberaufseher aufspielen und versuchen, die anderen herumzukommandieren. Dann das Wechselspiel zwischen drei Tänzerinnen: Magdalena Stoyanova markiert mit ihrem Klebeband auch kleine Quadrate um die Tänzerinnen Yuki Kobayashi und Mamiko Sakurai, die sich zugleich beschützt und eingeengt fühlen und dies in wunderbaren Soli und Duos ausdrücken. Die Schutzhüllen fallen nach und nach, ebenso wie das Eis in den beleuchteten Glasbehältern schmilzt.

Doch richtig friedlich wird es bis zum Schluss nicht. Die Macht- und Liebesfrage bleibt offen.

Tosender Applaus für ein wirklich modernes Stück, das es verdient, auch im 21. Jahrhundert noch öfters gezeigt zu werden.

 

Ursula Hahn-Grimm, 24.02.2014, Gießener Anzeiger