„Life is a Cabaret!“: Eine lebendige Produktion von „Cabaret“ in Gießen - musical total

10.09.2013

„Life is a Cabaret!“: Eine lebendige Produktion von „Cabaret“ in Gießen

Mit „Cabaret“ aus der Feder von John Kander (Musik) und Fred Ebb (Text) hat das Stadttheater Gießen sich für die neue Spielzeit einen Klassiker des Musicals ausgesucht. Die gelungene Gießener Umsetzung der Geschichte von Joe Masterhoff, die auf einem Buch von John Druten und Erzählungen von Christoph Isherwod basiert, entführt in eine bunte und zeitweise schräge Welt, die doch immer wieder von politischen Ereignissen durchdrungen wird. Während im Berliner Kit-Kat-Club eine scheinbar ungetrübt vielseitige Kultur lebt, wächst der Einfluss der Nationalsozialisten.
Am Ende können weder die Beziehung der Sängerin Sally Bowles und des amerikanischen Schriftstellers Cliff Bradshaw als auch die Liebe von Cliffs Vermieterin Fräulein Schneider und dem jüdischen Obsthändler Herr Schulz in diesem Umfeld bestehen.
Das Leben ist ein Theater, doch die Politik macht auch vor dem Theater nicht Halt. „Wenn du jetzt nicht dagegen bist, bist du dafür!“, erwidert Cliff auf Sallys sorglose Einstellung und ruft dem Zuschauer so ins Gedächtnis, wie gefährlich Toleranz gegenüber Intoleranz sein kann. Die Botschaft ist klar, der Bezug auch zu unserer heutigen Situation aktuell und dennoch schafft es das Musical mit vielen Anleihen aus dem Vaudeville in der Inszenierung von Intendantin Cathérine Miville, diese Botschaft zu transportieren, ohne zu aufdringlich mit dem Finger darauf zu zeigen.
Durch die stimmige Bühnenkonzeption (Bühne und Ausstattung: Matthias Moebius), wie man es vom Gießener Stadttheater gewöhnt ist, ist das Cabaret immer im Mittelpunkt. Eine raumfüllende Treppe, die mit bunten Stangen und Pferden einem Karussell ähnelt, bildet den Angelpunkt der Handlung, den Kit-Kat-Club. Dank des geschickten Einsatzes der Drehbühne sind auf der Rückseite, beziehungsweise unter der Treppe, die Wohnung von Fräulein Schneider sowie das Zimmer von Cliff zu sehen. Da ist selbst für feine Details Platz, auch wenn diese vom Publikum nicht immer wahrgenommen werden; wie beispielsweise als Fräulein Schneider vor ihrer mit Rosen übersähten Tapete stehend erklärt „Ich bin ja auch nicht auf Rosen gebettet!“.
Das Stadttheater Gießen setzt bei den Songtexten auf einen Mix aus Englisch und Deutsch. Die Originaltexte erweisen sich vor allem für Klassiker und Shownummern wie „Cabaret“ oder „Money, Money“ als goldrichtige Entscheidung, wohingegen bei Sallys eindrucksvollem „Maybe This Time“ die Dramatik für alle Zuschauer, die im Englischen nicht ganz bewandert sind, leider auf der Strecke bleiben dürfte.
Unter der Leitung von Andreas Kowalewitz bringen die Sänger und Instrumentalisten ebenso die dramatischen Lieder als auch die Shownummern des Kit-Kat-Clubs schwungvoll über die Bühne, wobei man sich am Anfang einen etwas volleren Sound aus dem Orchestergraben gewünscht hätte. Besondere Begeisterung verdienten sich an dem Abend die vier Bläser, die mit Saxophonen und Posaune in glänzenden Kostümen, teilweise Kleidern, Bühnenluft atmen durften und das perfekte Ambiente für den Kit-Kat-Club erschufen.
Darüber hinaus wird hier alles auf die Bühne gebracht, was das Drei-Sparten-Haus zu bieten hat – angefangen beim souveränen Kinder- und Jugendchor (Leitung: Martin Gärtner) sowie den stimmstarken Theaterchor (Leitung: Wolfgang Wels) bis hin zu dem begeisterten Tanzensemble (Choreographie: Anthony Taylor/Tarek Assam). In den durchdachten Tanzeinlagen zeigt sich auch der schleichende politische Einfluss auch auf das Theater, wenn aus dem ausgelassenen Beineschwingen zuletzt ein Marschieren wird. Dass die Choreographien nicht immer ganz synchron sind, ist bei dem vollen Einsatz der Tänzer zu verzeihen und selbst die deutlichen Unstimmigkeiten in der eigentlich sehr einfachen „Choreographie“ der Seemänner entwickeln beinah Charme. Schade ist nur, dass in den ersten Szenen im Kit-Kat-Club die Mehrheit des Ensembles (sieht man vom Telefonsong ab) eher dekorativ und unbeteiligt wirkt, was es dem Zuschauer erschwert, sich auf die Atmosphäre des Handlungsortes einzulassen.
Was dieses „Cabaret“ erst zu etwas Besonderem macht, sind die Hauptdarsteller, allen voran Sophie Berner und Andrea Matthias Pagani. Andrea Matthias Pagani ist in Gießen schon als Che in „Evita“ bekannt und der Conférencier steht ihm mindestens genauso gut. Mit seiner klaren Stimme voll kühler Ironie überschaut und kommentiert er das ganze Geschehen. Trotz seiner extravaganten Rolle und ausgefallener Kostüme wirkt er niemals grell, und gerade im Tanz mit einem Gorilla (wunderbar getanzt und gespielt von Joey Bustos/Jeremy Green) während „Säht ihr sie mit meinen Augen“ strahlt er die perfekte Selbstverständlichkeit aus, welche die Szene benötigt.
Sophie Berner verkörpert Sally Bowles bis ins Detail genau, wobei ihre Erfahrung mit der Rolle ihr sicher zu Gute kommt: Sie ist einfach Sally. Bei ihrem ersten Auftritt zieht sie den Zuschauer sofort mit absolut starker Bühnenpräsenz sowie ihrer rauchig warmen und gleichzeitig kraftvollen Stimme in ihren Bann, die sie besonders bei „Maybe This Time“ wunderbar entfalten kann. Leider nimmt die Entscheidung, Sally den Song „Cabaret“ mit einem Stück Unsicherheit spielen zu lassen, der Nummer im Gesamtbild etwas zu viel Elan, auch wenn es im Kontext der Handlung gerechtfertigt sein mag.
Passend zu Sophie Berner ist Pascal Thomas ein zunächst schwärmerischer Cliff Bradshaw, der mit der Zeit an Ernst gewinnt, als er die Gefahr der politischen Ereignisse ahnt. Berner und Thomas stehen sich sowohl als Paar als auch in ihren individuellen Rollen in nichts nach und machen ihre Beziehung ebenso wie ihre Trennung auf unsentimentale Art und Weise glaubwürdig.
Petra Soltau und Harald Pfeiffer als Fräulein Schneider und Herr Schulz sind zwei liebenswerte Charaktere, insbesondere wenn sie ein Stück Romantik durch das Geschenk einer Ananas finden und zu Beginn noch ihre Zuneigung füreinander in einem schwärmerischen Lied für die Ananas verstecken. In weiteren Rollen sind Marie-Louise Gutteck als keckes, energiegeladenes Fräulein Kost und Lukas Goldbach zu sehen, der den Nationalsozialisten Ernst Ludwig beeindruckend darstellt, ohne den Charakter, der alles repräsentiert, was die Paare unter den Hauptcharakteren trennt, überzogen wirken zu lassen.
„Cabaret“ in Gießen ist die gelungene Umsetzung eines Klassikers mit starken, glaubwürdigen Darstellern und einem feinen Gespür für die energievollen ebenso wie die ernsten Töne des Stücks, bunt und doch nicht grell, wie das Leben. Auch ein Stadttheater kann ein lebendiges Musical produzieren und man bedauert bloß, dass dies in Gießen (zumal Mittelhessen auch mit keinen Theatern von Long-Run-Musicals versorgt ist) nur alle zwei Jahre der Fall ist. B.Kühn, 28.11.2011, musical total