Rui-Horta-Tanzabend voller Kraft und Poesie - Gießener Allgemeine Zeitung

24.02.2014

Der portugiesische Choreograf hat in den 90er Jahren die Tanzwelt elektrisiert. Seine Magie verzaubert bis heute. Das zeigen zwei Stücke im Stadttheater.


Die halbdunkle Bühne wirkt wie bei einer Probe. Die Tänzer laufen herum, machen Dehnübungen, unterhalten sich, räumen das eine oder andere auf. Das merkwürdigste jedoch: Sie füllen Eisbrocken aus Tüten in beleuchtete Glasbehälter an den Bühnenrändern. Dann beginnt einer im Kreis zu laufen, gibt damit das Anfangssignal und die anderen schließen sich nach und nach an, ziehen schließlich parallel zueinander Kurven auf dem Parkett.

Aus dem beiläufigen Straßengeräusche-Sound wird nun auch Musik, doch das punktuelle Kaltlicht bleibt. Es sind Overheadprojektoren, auf denen die Eiswürfelbehälter stehen, und die Lampen werfen ihr Licht durch das Eis, wodurch mal auf dem Boden, mal auf der Rückwand geheimnisvolle Effekte entstehen. Einer wird zum Hüter des Eises, rührt darin herum, trägt die Behälter herum; genauso wie er zum Hüter der anderen sechs Beteiligten wird.

Sven Krautwurst hat schon häufiger überrascht in seinen Rollen, doch in »Khôra« übertrifft er sich selbst. Als Darsteller und Komiker, mit seinen weich-biegsamen, zugleich kraftvoll-energischen Bewegungen. Wobei diese Kombination typisch ist für das letzte Frankfurt-Stück, das Rui Horta 1996 mit dem legendären S.O.A.P. Dance Theatre kreiert hat. Das Gießener Stadttheaterpublikum konnte am Samstagabend die erstmalige Wiederaufführung von »Khôra« seit damals miterleben. Und war restlos begeistert.

Fast 20 Jahre alt sind die beiden Stücke des Tanzabends »The Horta Project – SOAP Recreation«, aber kein bisschen altmodisch. Der portugiesische Choreograf Rui Horta hat damals die Tanzwelt geradezu elektrisiert mit seinem körperbetonten, kraftvoll-dynamischen Stil. Dass wir heute immer noch begeistert sind, beweist ihren innovativen Charakter. Was damals ungewöhnlich war, zählt heute zum Bewegungsrepertoire des zeitgenössischen Tanzes: das Springen und Hinwerfen, das Fliegen und Fallen ohne Angst; Bewegungen, die aus dem Alltag oder aus diversen Sportarten kommen, die das starre Ballettschema überwinden und bei aller Athletik Lockerheit in den Tanz bringen.

Ermöglicht wurde »The Horta Project – SOAP Recreation« durch die Finanzierung im Rahmen des »Tanzfonds Erbe« der Bundeskulturstiftung, die damit dem Vorschlag des Gießener Ballettdirektors Tarek Assam gefolgt war. Auf vielen Bühnen gibt es in diesem Jahr Stücke des deutschen Tanzerbes, doch nur wenige haben sich lebende Choreografen dazugeholt. Durch Sparzwang wurde in Frankfurt die SOAP-Company Anfang 1998 aufgelöst, Rui Horta ging bald zurück nach Portugal. Er choreografierte fortan in Europa und der Welt, aber nicht mehr in Deutschland. Ausgerechnet hier ist er zu einem Stück Vergangenheit geworden, obwohl es für ihn seine wichtigste Zeit war. Der Spannungsbogen wird in Gießen geschlagen von Hortas erstem Frankfurt-Stück »Ordinary Events« (1991) zu seinem letzten, »Khôra« (1996).

Die zwölfköpfige Tanzcompagnie Gießen setzt die Stücke großartig um, die lange Probenzeit hat sich gelohnt. Alle tanzen eindrucksvoll auf hohem Niveau. Beide Werke werden original wiederaufgeführt, das gilt auch für die Musik, das Bühnenbild (Horta) und die Kostüme (Kathy Brunner). Das karge Bühnenbild zeigt deutlich, dass diese Stücke aus der freien Szene kommen und für Tourneen geschaffen wurden.

Bei »Ordinary Events« (25 Minuten) sind es drei rote Teppichläufer, die den Bühnenraum symmetrisch aufteilen. An ihren Enden steht je ein Stuhl, der erobert sein will. Vier Männer und zwei Frauen rangeln um ihre Position, mal als Individuum, mal als Paar. Horta geht hier der Frage nach, wie Menschen miteinander auskommen, ob Macht auch ohne Verletzungen ausgeübt werden kann. Die Posen des klassischen Balletts werden immer wieder eingenommen, doch vergehen sie unter den harten Blechtrommeln der Tambours du Bronx – Bergarbeiter, die den Sound der Straße verkörperten. Daneben gibt es nur Stille, Raum für die Besinnung auf sich selbst. Hier tanzen: Lea Hladka, Jennifer
Ruof, Edoardo Novelli, Claudio Pisa, Endre Schumicky, Manuel Wahlen.

Die harten Kontraste zwischen laut und leise gibt es auch in »Khôra« (70 Minuten), doch ist die Musik von Koen Brandt eine Soundcollage mit Stimmen und Alltagsgeräuschen, mit klassischer Musik und beiläufigem Geklimper, auch mit heftigen Rhythmen.

Die sieben Akteure führen Dialoge oder schreien einander an, sind mal behutsam und rücksichtsvoll, mal ruppig oder hysterisch. Hortas Credo für dieses, sein dunkelstes und deutschestes Stück: Man muss mit Gewohnheiten brechen, um Neues zu finden. Wobei man auch die Hilfe von anderen annehmen sollte. Augenfälliges Symbol für selbstbehindernde Gewohnheiten ist das Klebeband, das am Bewegen und Sprechen hindern kann, das die Wege am Boden vorzeichnet (auch wenn sie ins Nichts führen), das einen Schutzraum markiert, wie eng auch immer der sein mag. Es gibt witzige Duette, wie das zwischen Krautwurst und Yuki Kobayashi (»Et voilà«) oder das jungenhaft-verspielte von Krautwurst und Wahlen. Das Highlight ist das berührend-zärtliche Pas de deux des hochgewachsenen Michael Bronczkowski und der zierlichen Caitlin-Rae Crook. Unfassbar. Mamiko Sakurai gibt die Schutzbedürftige und Magdalena Stoyanova die immer Unabhängige, egal was es kostet.

Es endet wie es begann: Alle ziehen ihre Kreise und räumen hinter sich auf.

Dagmar Klein, 24.02.2014, Gießener Allgemeine Zeitung